Hier hat Wilke mal nichts vorweggenommen, sondern nur beschrieben, was (bisher?) auch Alltag war.
Andreas Venzke: Wilkes Tag
XVII. Wenn man im Chor singt
Ich spüre das Leben so intensiv wie selten. Wer kann denn sagen, woher die Freuden rühren? Daher, dass man das Gefühl hat, übergeordneter Gewalt entkommen zu sein, oder dass der blöde Falkensteiner beim Konzert wirklich genau der Partitur folgt und seine Stimme wie mit dem Lastenkran auf die Tonlinien des Chores setzt?
Ich strahle die Männer an, die von allen Seiten selbstbewusst, voller Vorfreude und vital zusammenkommen. Fast alle haben einen Schal in den Vereinsfarben umhängen, viele tragen ein Trikot des Sportclubs, manche Mützen und Anstecker in diesen Farben, einige sogar Schweißbänder am Handgelenk. Ausnahmslos alle halten einen Becher Bier in der Hand und singen: „Nieder mit den Preußen, auf die tun wir scheißen!“ Sie sind glücklich.
Kurz überlege ich, wie ich selbst beschaffen sein müsste, um in ein Fußballtrikot zu schlüpfen. Das wäre für mich an Peinlichkeit kaum zu überbieten.
Da werde ich mit der Menge schon vorwärtsgedrängt und auf einen Bierstand zugeschoben. Ohne weiter nachzudenken, durchsuche ich meine Hosentaschen nach ein paar Münzen. Ich freue mich so sehr, als ich eine erfühlen kann, einen Euro. Den habe ich immer für einen Einkaufswagen in der kleinen Innentasche stecken. Wie überkommt mich plötzlich der Durst, die Lust auf einen Schluck Bier! Tatsächlich schiebt mir am Tresen eine junge Frau, ohne dass ich gefragt hätte, einen Becher Bier zu. Ich ziehe die Schultern hoch und halte ihr den Euro entgegen.
„Macht dreiachtzig!“, sagt sie und sieht mich genervt an.
„Ich habe nur ... ach Mist!“, sage ich mit Blick auf mein Geldstück, und meine Stimme bricht.
Hinter mir drängen andere Männer nach. Ich halte entschuldigend beide Hände hoch und will mich umdrehen und gehen.
„Was iss, Alter?“, ruft da jemand hinter mir und legt mir kumpelhaft den Arm um die Schulter. „Hat dir deine Olle nich mehr Geld mitgegeben? Anzug auch noch kaputt!“
Er wendet sich an die junge Frau und ruft: „Hier, Susi, rechne das mal für den mit ab!“
„Na Karle“, sagt Susi mit ganz tiefer Stimme und zieht weiter den Zapfhahn zu sich hin, aus dem unaufhörlich ein feiner Strahl Bier rinnt, „wen haste denn da unter der Brücke vorgeholt?“
Sie sieht mich kurz an, als müsste sie einen Penner bedienen.
„Wie heißte eigentlich?“, fragt mich Karl plötzlich, und ich komme mir wie überfallen vor.
„Oh Mann!“, sage ich nur langsam, weil ich gar nicht glauben kann, in was für eine Situation ich geraten bin.
Soll ich diesem wildfremden Mann, der mich mit seinen wässrigen blauen Augen zu fixieren versucht, wirklich meinen Namen sagen? Nur kann der damit bestimmt nichts anfangen. Doch wie persönlich soll denn das werden?
„Oman?“, fragt Karl, und ich nicke spontan, weil ich gerade keinen klaren Gedanken fassen kann.
„Oman! Echt jetzt?“, prustet Karl los, und ich nicke zum zweiten Mal.
Da schiebt Susi noch einen Becher mit Bier rüber, der so voll ist, dass es überlaufen muss.
Karl drückt ihr einen Zehn-Euro-Schein in die Hand, macht gleich eine abwehrende Handbewegung und beugt sich mit dem Mund zu dem Becher, um abzutrinken.
Dann schiebt er mir den anderen Becher zu, den ich nicht bezahlen konnte, haut mir gegen den Arm und sagt mit rauchiger Bierfahne, die eigenartig frisch riecht: „Na denn mal Prösterchen, Oman, armer Gockel!“
Alle lachen, ich auch, und als ich trinke, ohne zu verschütten, mache ich einen solchen Zug, dass ich selbst staunen muss.
Ich sage laut und bestimmt, mich nach links und rechts wendend: „Prost also! Danke! Auf ein gutes Proben.“
Es wird kurz ein wenig stiller. Ein paar Männer sehen sich fragend an. Dann fängt Karl wieder an zu singen, und alle stimmen mit ein. Ich gebe den richtigen Ton vor: „Nieder mit den Preußen, auf die tun wir scheißen!“
Die Männer nicken mir zu und stoßen, während sie singen, das heißt, grölen, mit mir an. Einer schlägt seinen Becher mit Bier so an meinen, dass der, wäre er aus Glas, zersprungen wäre. Außerdem habe ich meinen Becher ein Stück zurückgezogen. Das habe ich wie instinktmäßig getan, so wie ich die Hand zurücknehme, wenn etwa der Tenor voller Übermut losschreit. Wenn die Männer mal dürfen, müssen sie ja gleich ihre ganze Kraft spüren lassen. Auch hier müsste man eigentlich dagegenhalten, das ist mir schon klar. Nur bin ich in der Hinsicht ganz der Judokämpfer, was ich als Jugendlicher immerhin im Ligabetrieb war. Mein Vater hatte das immer ignoriert. Ich muss gar nicht aussprechen, was er über Judo dachte.
Trotzdem versuche ich hier, wenigstens stimmlich mitzuhalten, auch um zu zeigen, dass ich dazugehöre. Obendrein versuche ich, die musikalische Linie ein wenig zu beeinflussen, indem ich die Wörter „Preußen“ und „scheißen“ nicht mit andauerndem Druck betone. Das gibt auch der Melodielinie ein wenig Leichtigkeit. Aber es ist wie beim Chor, wenn man hundertmal darauf verwiesen hat, dass an einer Stelle gefälligst zu synkopisieren ist. Der Deutsche hat nun mal die Marschmusik in den Genen.
So schnell wie ganz selten habe ich den Becher Bier geleert, und ich genieße die angenehme Wirkung. Es puscht mich auf und macht mich doch seltsam ruhig, geradezu harmoniesüchtig, auch schmerzfrei. Ich ziehe mit Karl und den Männern zur Tribüne. Mein Humpeln bemerken sie gar nicht.
Ich stehe dann unter ihnen. Sie nehmen mich wirklich in die Mitte, was mir eigentlich noch nie behagt hat – so in der Masse stehen. Aber ich fühle mich als Teil einer Gemeinschaft, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. So ist es also, wenn man im Chor singt.
XVIII. Die Leute in ihrer Ursprünglichkeit
Ich stehe auf den Zuschauerrängen und schaue mir das Spiel an. Immer mal wieder schreit Karl neben mir: „Schiri, du Pfeife!“, „Assi!“, „Biste blind!“
Immer wieder singen alle.
So wie Karl da impulsiv losschreit, kann ich nicht anders und muss an meinen Vater denken: Bei ihm läuft das Leben im Fußballtakt, von einer deutschen Meisterschaft zur anderen, von einem Qualifikationsspiel zum nächsten, bis es dann wieder so weit ist: Zur Weltmeisterschaft dient seine Frau erst recht nur dazu, dass er irgendeinen Empfänger braucht, der vier Wochen lag Schreie wie diese hört: ”Schieß doch, du Pfeife! ” – ”Das gibt’s doch gar nicht!” – ”Also, ist der denn zu doof?” – ”So ein Scheißspiel!”
Die Fußballweltmeisterschaft degradiert meine Mutter erst recht zur Putzfrau, die immer wieder das Klo in einen sauberen Zustand bringt, wenn er dort in einer der Pausen hin muss, zur Köchin sowieso, überhaupt zu einer erst recht minderbemittelten Person, die noch nicht einmal verstehen könne, was Abseits ist. Zwar versteht sie es, und ich weiß außerdem: Er könnte es selbst nicht erklären. Aber Frauen würden es nun mal nicht verstehen. Das weibliche Abseitsunverständnis braucht er, um sich beim Fußball vor der Glotze erst recht kompetent zu fühlen.
Fußball ist eine Zeit, in der bei ihm jede Form von Ironie, die er ja nur ansatzweise kennt, im nationalen Gegröle nur mit der Pauke zu hören wäre. Aber die wird für den Schlag auf die Eins gebraucht.
Ich denke daran, dass er seit einiger Zeit auch selbst auf den Fußballplatz geht, wie mir meine Mutter jüngst anvertraute, und zwar zu den einfachen Spielen um die Ecke, zu solch einem wie diesem. Sie erklärte sich das damit, dass er doch irgendwie unter die Leute müsse, seit er in Rente ist. Sie selbst könne dann mal durchatmen, fügte sie noch an, und mehr musste sie gar nicht sagen. Sie versteht, dass ich verstehe.
Was ist nur mit mir los? Eigentlich müsste ich mich vor Scham wegducken, wenn Karl neben mir wieder schreit. Er ist geradezu die Verkörperung meines Vaters, jedenfalls was seine Reaktionen auf das Spiel angeht. Das ist so schlecht, denke ich, obwohl ich grundsätzlich nicht so viel von Fußball verstehe. Aber ich sehe, wie immer wieder gefoult wird, nicht mal mit Absicht, sondern einfach aus Unvermögen heraus. Da geht einer mit voller Wucht auf den Ball, kann aber nicht mehr zurückziehen, wenn der gegnerische Spieler plötzlich schnell annimmt. Wie da manchmal der Schuh vorgestreckt wird, mit Stollen am Ende, der dann voll auf den Fuß des Gegners trifft! Ein paar Mal wende ich den Blick ab, weil ich denke, dass jetzt wirklich ein Bein durchgetreten wird.
Nur hat mein Vater doch mehr Kultur, oder überhaupt Kultur. Das macht den Unterschied aus. Er versteht durchaus was von Musik. Nur setzt er sein Verständnis dafür ein, das niederzumachen, was ich mache. Auch beim Fußball hätte man keine Chance, gegen ihn zu argumentieren. Zu sagen, dass der Gegner vielleicht auch nicht schlecht spielt, würde er beantworten: „Die stellen sich doch mit Fünferkette nur hinten rein. Tief verteidigen, heißt das jetzt. Mauern hätten wir früher gesagt. Und dass du für die Italiener bist, wundert mich natürlich gar nicht. Nur nicht für Deutschland sein! Catenaccio, genau, so hieß das doch früher bei den Italienern. Hat sich bis heute nicht geändert. Und Schauspielkurse müssen die natürlich erst gar nicht belegen.“
Vielleicht habe ich mich deswegen nie für Fußball interessiert.
Und jetzt fühle ich mich auch noch eigenartig wohl, geradezu sicher, zwischen Leuten, mit denen ich eigentlich nichts zu tun habe. Mit ihnen spreche ich sonst nur, wenn ich mein Auto zur Reparatur bringe oder wenn im Bad die Fliesen neu verfugt werden müssen oder wenn ich beim Bäcker ein Brot kaufe, Vollkorn, was Corinna immer wichtig ist. Dabei kann auch ein frisches Weißbrot mal richtig gut schmecken, finde ich, wenn man es etwa mit Crevetten isst, die man leicht in Öl anbrät, mit Knoblauch natürlich. Ein Genuss, der sich selbst reicht! Den man nicht hinterfragen kann, geschmacklich, ökologisch natürlich schon, weil diese Crevetten irgendwo aus Südostasien kommen, wo deswegen der Mangrovenwald gefährdet ist. Alle Klassiker hatten ja Lieder, die sich selbst genügen, die höchstens noch zur Unterstützung eine zweite Melodielinie wollen, aber nur um ebendie schöne Melodie hervorzuheben.
Wenn ich mit diesen Leuten spreche, bin ich oft etwas gehemmt. Sie treten mir immer als Experten gegenüber, der Automechaniker etwa, der mir erzählt, dass die Achsmanschetten unbedingt ausgetauscht werden müssen, weil sie schon ganz porös seien. Keine große Sache das. Nur die Antriebswelle vom Differenzialgetriebe lösen, und am besten nicht die Universalmanschetten verwenden. Und ich versuche, das geistreich zu kommentieren, damit er merkt, dass ich verstehe, wovon er spricht, und also selbst mitentscheiden könnte ... Ein lächerliches Spiel um Deutungshoheit. Eigentlich kann der sonst was an mich ranlabern, wenn es für mich nur überzeugend klingt. Und das weiß er auch.
Vielleicht bleibt deswegen immer eine Art Misstrauen gegenüber diesen Leuten, die ja auch zusehen müssen, wie sie durchkommen. Der Automechaniker verdient nun mal mehr, wenn er mir glaubhaft verklickern kann, dass die Achsmanschette eigentlich defekt ist und damit das ganze Antriebs- und Spurassistenzsystem jeden Augenblick blockieren könnte ... Es müssten zur Sicherheit auch gleich beide Manschetten ausgewechselt werden, mit Originalteilen, nicht aus Plastik, sondern aus Gummi, weil die elastischer sind. Das hat mich jüngst 429,28 Euro gekostet.
Hier auf dem Feld jedoch zeigen sich mir die Leute in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer ganzen Natürlichkeit, als wenn man aus der Partitur all den Begleitstimmenquatsch herausstreichen würde.
Ich singe immer wieder mit. Bald habe ich sogar das Gefühl, die Leute um mich herum warten sogar darauf, dass ich in den Gesang einstimme. Es ist, als würden sie sich von mir den richtigen Ton abholen. Was sie dann aus dem Gesang machen, kann ich nicht mehr kontrollieren. Es läuft leider doch immer auf die einfachsten Melodien hinaus, Yellow-Submarine-mäßig, aber immer mit Klatschen auf dem Puls. Ich habe am Anfang bewusst auf die 2 und die 4 geklatscht, aber da haben mich ein paar der Leute streng angesehen und nur noch lauter geklatscht.
Unsere Mannschaft, der Sportclub, führt. Es sind die Spieler mit den gelben Trikots, nicht den roten, was ich erst mal verstehen musste. Ganz am Anfang habe ich bei einer Torgelegenheit falsch geschrien. Da hat mich einer erst recht streng angesehen, fast feindselig – da wusste ich gleich Bescheid.
Und Karl hat noch zu mir gesagt: „Biste doof?“
Ich habe aus Unsicherheit sogar genickt. Da hatte er sich aber schon wieder zum Spiel gewandt.
Diese Leute sind nun mal direkt und geradeaus.
Ich komme mir vor wie am Puls des Lebens hängend. Mein Knie schmerzt gar nicht mehr.
XIX. Jeder hat seine Rolle auszufüllen
Im Spiel sind zwanzig Minuten gelaufen, da habe ich es doch tatsächlich geschafft, sozusagen einen neuen Chor aufzustellen. Zur Melodie von Mozarts Kleiner Nachtmusik singen wir inzwischen: “Sportclub vor, Sportclub schieß ein Tor ...“. Das ist zwar als Text billig, aber als Melodie antreibend. Es passt gut, wenn das Spiel unterbrochen wird oder die Spieler auf einen Einwurf warten. Dann sehen alle zu mir und erwarten offensichtlich, dass ich mit Singen anfange. Vielleicht ist es im Leben so: Jeder hat seine Rolle auszufüllen. Und sind welche nicht irgendwie natürliche Anführer? Oder die Leute merken einfach, dass ich von Musik etwas verstehe, so wie sie von Autos, Fliesen und Brot.
Plötzlich ruft jemand mitten in meinem Lied, „Brüder“, eigenartig im Falsett. Ich singe laut weiter. Dann rufen aber andere auf das Feld: „Warme!“ So geht das plötzlich im Wechselgesang hin und her, musikalisch gar nicht schlecht gemacht, denke ich kurz.
Ich komme ganz durcheinander. Was ist das jetzt? Gibt es so primitive Anfeindungen immer noch? Ich fasse mir ans Knie und ducke mich.
Als endlich alle singen, „Zieht den Preußen den Mittelscheitel nach ...“, atme ich wie befreit durch.
Ich habe mich nicht verhört, weiß ich. Fast alle haben „Warme Brüder“ geschrien. Aber was haben die Preußen als Fußballer damit zu tun? Wieso sollen die schwul sein?
Aber es ist, als wäre mein Block plötzlich davon angesteckt. Als Preußen einen Freistoß bekommt und der Schiri obendrein die gelbe Karte zückt, ruft wieder jemand: „Brüder!“, ganz selbstverständlich, und alle um mich her stimmen ein Pfeifkonzert an, das nur langsam decrecendo ausklingt.
„Was der Schiri zusammenpfeift!“, brüllt Karl neben mir. „Immer nur gegen uns!“
Er nickt mir zu, und ich sehe wirklich Hass in seinen Augen.
„Los, sing!“, schreit er mich geradezu an.
Ich stimme an: „Sportclub vor ...“
„Nein, jetzt doch nicht, du Lauch“, ruft er und singt selbst: „Hejo, hängt den Schiri auf! Hängt den Schiri, hängt den Schiri auf!“
Alle singen mit, im Kanon, nur diese Zeile. Ich bewege ebenfalls den Mund dazu. Karl kommt mir plötzlich wie verwandelt vor. Er macht eine Faust und dirigiert damit, mir voll zugewandt.
Ich singe halblaut mit, fasse mir wieder ans Knie und bin froh, als der Gesang schnell wieder abbricht.
Zwei rote Spieler liegen auf dem Feld, einer krümmt sich zusammen. Um mich her wird nun geschrien und gepfiffen, dass ich mir einmal kurz die Ohren zuhalte.
Dann höre ich plötzlich einen hinter mir rufen: „Juden!“ Oder habe ich mich verhört?
In diesen kurzen Moment der Stille, wie die kleine, aber entscheidende Pause zwischen zwei Sätzen, wenn alle darauf warten, dass ein neues Motiv anklingt, höre ich plötzlich noch einen anderen rufen, ganz vorn, als hätte er mit uns gar nichts zu tun: „Das gibt’s doch gar nicht! Nun spielt doch mal und hört auf mit dem Taktikgedöns!“
Mein Vater steht keine zehn Meter weit vor mir.