Es scheint fast, als ob Wilke hier plötzlich ganz anders zum Nachdenken käme ...
Andreas Venzke: Wilkes Tag
35. In der Masse ist man stark
Das Gekicke von diesem Sportclub geht mir so auf die Nerven. Welches Potential diese Spieler haben, liest man dazu, und was für einen hervorragenden Trainer! Aber erreicht der seine Spieler überhaupt? Das ist doch wie bei einem Orchester. Man kann auch da erstklassige Spieler haben und einen hervorragenden Dirigenten. Aber ein solcher Dirigent muss eben mehr tun als hervorragen. Der muss mitreißen, begeistern, ein Feuer entfachen. Da würde mir mein Herr Sohn mal durch und durch zustimmen.
Ich schreie mir die Kehle aus dem Leib und bin deswegen schon ganz benommen. Ich merke durchaus, wie sinnlos das ist, weil der Sportclub so schlecht spielt, grottenschlecht, wie es heute heißt, unterirdisch. Aber so komme ich schließlich in Fahrt. Wenn man sich noch dem Geschrei der anderen anschließt, die hinter mir ja immer neue Lieder anstimmen, entsteht in einem so ein wohliges Gefühl. Man gehört dazu. In der Masse ist man stark, so einfach ist das.
Eine halbe Stunde ist rum, da singe ich sogar die Lieder mit, obwohl ich es mit dem Gesang nicht so habe: Nieder mit den Preußen, auf die tun wir scheißen! Ich nehme sogar diesen grammatikalisch so furchtbaren, diesen kindischen und doch so weit verbreiteten Verbgebrauch in Kauf, um mich hier anzuschließen. Es gibt kaum eine andere Satzkonstruktion wie diese, von der sich die Abkunft der Leute so eindeutig herleiten lässt. Wer sie gebraucht, der hat nicht verstanden: Von Grund auf nicht! Der tut eben auch schreien!
Sonst gebe ich mir immerhin noch Mühe, sozusagen das Korrektiv zu sein und sacht darauf hinzuweisen, wie die Regel lautet. Hier aber ist das gerade unmöglich. Außerdem muss ich zugeben, dass der Reim nur so richtig funktioniert, und nicht nur das, ich falle zu dem Gesang auch automatisch ins Klatschen. Das ergibt sich wie von selbst, als ob man zusammen marschieren würde.
Plötzlich gibt es ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert, das ich mir tatsächlich nur anhören kann. Ich kann da leider nicht mit einsteigen. Denn zum Pfeifen hat es nie gereicht. Ich kann zwar ein Lied mitpfeifen, und darin bin ich eigentlich ganz gut, besonders mit Hintergrundmusik im Wohnzimmer, das meine Frau dann immer verlässt, weil sie meinen Musikgeschmack nicht mag, aber das sozusagen proletarische Pfeifen, das mit zwei Fingern, habe ich nie gelernt. Manche können das sogar, ohne den Finger in den Mund zu stecken. Das ist auch so ein eindeutiges Zeichen dafür, wo die großgeworden sind. In meinem Elternhaus ging es gesittet zu, und ich habe versucht, das an mein Kind weiterzugeben. Aber ob ich damit wirklich Erfolg hatte?
Eigentlich habe ich das Pfeifen auf den Fingern insgeheim immer bewundert. Frag mich einer, warum ich dazu nicht in der Lage bin! Weil ich doch immer zu bewusst im Leben stehe, zu reflektierend, zu analysierend? Beim Fingerpfeifen muss man aus sich heraus oder man muss sich trauen, so richtig laut zu sein, übertrieben laut, was sich in meinem Sinne nicht gehört, sich verbittet – nein, man muss das erst einmal üben, am besten in der Gruppe, dass einem das gezeigt wird, dass man überhaupt mal zu erkennen gibt: Ich beherrsche das nicht, ich kann das nicht. Ein solches Eingeständnis würde mir schwerfallen, und zu einer Gruppe habe ich eigentlich auch nie gehört.
Manche haben ja richtig viele Freunde, behaupten sie zumindest. Aber schon eine solche Behauptung zeugt doch von Oberflächlichkeit! Wer kann sich denn wirklich, so von Mann zu Mann, austauschen, mit mehr als drei, vier guten Freunden? Leider ist mein einer guter Freund vor ein paar Jahren gestorben.
Der Gernot von der anderen Mannschaft, den Preußen, der gut spielt, so athletisch wie ästhetisch, was man neidlos anerkennen muss, hat einen von uns gefoult – oder eher umgestoßen. So genau habe ich das nicht gesehen. Und nun hat also sofort dieses Pfeifen angefangen. Ich schreie dazu ein bisschen, gegen diesen Depp von Schiedsrichter, einmal bewusst in die Stille hinein, um ebenfalls meinen Unmut zu zeigen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, diese Taktik mitzugehen, nämlich auch dann zu pfeifen und zu brüllen, wenn der Gegner offensichtlich nichts Schlimmes getan hat. Eigentlich bin ich ein Freund von Fairness.
„Juden!“, höre ich es dann schreien, und mir gefriert das Blut in den Adern. Ich will es zuerst überhören, aber schnell stimmen andere mit ein, wieder andere. Schreien es dann alle? Ich kann es nicht glauben und gucke mich vorsichtig um. Nein, nicht alle schreien es, aber viele. Ich bilde mir ein, dass ein paar andere so verstört gucken wie ich.
Schlagartig fühle ich mich nicht mehr wohl unter den Leuten, und ich weiß gar nicht, ob das der richtige Ausdruck ist. Ich habe meine Ordnung und meine Regeln, und ich habe meine Grenzen, und ich versuche, die eigentlich klar zu setzen. Aber hier bin ich nun sozusagen gefangen.
Da stürmen die Unseren endlich mal wieder beherzt vor, und es gibt einen Eckball. Den begleiten wir mit „Uuuuaaaah“, und ich stimme mit ein, weil ich froh bin, dass wir nun etwas anderes brüllen. Ich selbst versuche sogar dazu anzustacheln, singe „Nieder mit den Preußen ...“, aber mir überschlägt sich die Stimme.
„Juden!“, schreit wieder einer, als der Gegner sich sammelt und einen Angriff vorbereitet. Alle um mich herum stimmen mit ein, wirklich alle, da muss ich mir nichts vormachen. Ich starre auf das Spielfeld, auf die Spieler, auf den Schiedsrichter, die alle zur Salzsäure erstarren müssten. Sie hören es doch auch. Wird denn das Spiel nicht endlich unterbrochen, denke ich.
Da ruft einer schräg hinter mir: „Juden! Ins Gas!“
Mit einem Ruck drehe ich mich um und fixiere den, der das gerufen hat. Es ist ein ganz normaler Fan, ein Deutscher, mit Schal und Anstecker und einem Becher Bier in der Hand.
Wir starren uns an, ehe er mir zuruft: „Problem, Alter?“
„Wenn Sie das noch einmal rufen ...“, sage ich langsam und laut und drohe mit dem Finger, „dann ... dann ... So etwas hat hier nichts zu suchen. Das wollen wir nie wieder hören!“
„Dann, Alter, was?“, ruft dieser Deutsche zurück. „Was dann, Alter?“
„Dann rufe ich die Polizei“, sage ich sehr laut und meine Stimme überschlägt sich.
Der Deutsche grinst da zwar, aber ist doch still. Alle sind nun still, ehe sie plötzlich „Ohhh“ machen, weil der Sportclub gerade den Ball knapp neben das Tor geschossen hat. Dann singen sie wieder, und ich starre konsterniert vor mich hin.
36. Unbekannte in einer fremden Welt
Kurz vor der Halbzeit dränge ich schnell zwischen den Leuten hindurch, wie es einige machen, die sich rechtzeitig ihre Wurst und ihr nächstes Bier holen wollen. Ich gehe aber zu dem weiter entfernten Bierstand und bestelle einen Schnaps. Ich hoffe, dass mir der Mann vollschenken wird. Der Hautfarbe nach zu schließen muss er Türke sein, irgendein Südländer.
Die Türken soll man ja angeblich schon an ihrem Bart erkennen, habe ich mal gelesen, je nachdem ob sie Schnurrbart tragen oder Backenbart oder keinen Bart. Vollbart bedeutet Islamist. Der hier ist auf jeden Fall rasiert. Ich nicke ihm gequält lächelnd zu, und er meint vielleicht, ich hätte den Schnaps wirklich nötig. Vielleicht ist das auch so. Wiederum kann der wahrscheinlich gar nicht beurteilen, wie so ein Schnaps wirkt.
„Spielen wir schlecht?“, fragt der Mann, und ich sehe ihn verständnislos an.
Wen meint er mit wir, frage ich mich. Doch nicht den Sportclub?
„Na ja, das ist ein ziemliches Gegurke“, sage ich und kippe den Schnaps gleich ganz.
Ich freue mich auf die Wirkung, wenn man spürt, wie es gleich in den Eingeweiden warm wird, so als würde flüssiges Metall in die Form laufen. Das muss man aushalten können. Zwar weiß ich, dass der Schnaps nicht an sich gesund ist, aber seine Wirkung hat doch etwas Männliches. Man muss Dinge ertragen können, auch wenn sie offensichtlich bedrohlich sind. Außerdem reinigt der Schnaps nun mal.
„Ist das Spiel so schlimm?“, fragt der Türke lächelnd.
Ich kann darauf nicht richtig eingehen, weil ich mich frage, was der wohl von mir will. Dass der so nachfragt! Hat der irgendwelche Absichten?
„Na ja,“, platzt es aber aus mir heraus. „Und das Publikum ist nicht ganz fair.“
Da sieht mich der Türke direkt an und sagt: „Sie haben wieder Juden gebrüllt, nicht wahr? Das kenne ich. Sie haben nichts gelernt.“
Ich starre ihn nur an, weil mich seine Antwort so überrascht.
„Sind Sie Türke?“, frage ich.
„Nein, Palästinenser“, sagt der Mann. „Wollen Sie noch einen?“
Insgeheim habe ich mich sehr auf einen zweiten Schnaps gefreut, aber plötzlich zögere ich. Mir dreht sich alles im Kopf. Ich kann das alles gerade nicht verstehen. Wenn einer Palästinenser ist, ist er also nicht nur kein Jude, sondern er hasst doch die Juden. Diese Fußballfans hassen die Juden wohl auch, obwohl Preußen bestimmt keine jüdischen Spieler hat. Aber dieser Mann versteht, was passiert. Dass es wohl normal ist, wenn die deutschen Zuschauer ...
Und ich bin doch auch Deutscher. Auch so ein Deutscher, frage ich mich.
Plötzlich werde ich von irgendwelchen Fans zur Seite gedrängt. Ich will protestieren, sehe dann aber ein, dass ich vielleicht im Weg stehe. Da sind nun einige Fans gekommen, die in der Halbzeit schnell ein Bier wollen und noch schneller einen Schnaps kippen. Geht es denn im Leben nur noch hektisch zu?
Ich höre sie rufen: „Los Ismael, zack zack, zwei Schnaps, zwei Bier! - Pils bitte! Ich auch, Pils, Korn dazu! - Los, mach hin Ismael! Zwei Bier! Da, die kannste mir gleich geben!“
Ich starre auf die Leute wie auf Unbekannte in einer fremden Welt. Sie drängen zum Tresen, einen Geldschein zwischen zwei Fingern in einer Hand, in der anderen einen leeren Bierbecher oder eine Zigarette. Einer zieht daran so, als würde er den letzten Rest aus einer Zahnpastatube drücken.
„Der Schiri pfeift für Preußen, typisch! Werden die wieder bevorzugt, die Juden“, sagt er, den Rauch ausstoßend, mit Blick auf Ismael.
Der wechselt ihm schnell und dreht sich mit einer großen Bewegung, elegant eigentlich, schnell zu mir und schenkt mir einen Schnaps nach.
„Danke!“, murmele ich, obwohl er sich schon wieder weggedreht hat, um den nächsten zu bedienen. Jetzt kommt es darauf an, merke ich, jetzt läuft das Geschäft.
Ich halte den Schnaps vor mir wie ein Zaubermittel, das ich erst später einsetzen will.
„Scheiße, verdammte Scheiße“, ruft einer regelrecht angewidert. „Warum spielen die auch so einen Scheiß!“
Er kippt seinen Schnaps und zieht ein Gesicht, als müsste er sich damit läutern. Zitternd zieht er dann eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich in den Mund wie ein Todgeweihter.
Das ist er eigentlich auch, denke ich, und drehe das Glas Schnaps vor mir.
Wie nach einem Überfall ist es plötzlich wieder still. Der letzte der Fans wirft noch einen Zehn-Euro-Schein auf den Tresen und lässt erkennen, dass es ihm zu langwierig wäre, auf das Restgeld zu warten. Er torkelt den anderen nach.
„Es geht weiter“, sagt dieser Ismael aufmunternd zu mir. „Vielleicht drehen wir das Spiel ja noch.“
Er kommt hinter dem Tresen hervor und fängt an, auf dem Boden ein paar Becher und auch Kippen einzusammeln.
Da stürze ich meinen Schnaps hinunter, obwohl ich weiß, dass er mir nicht schmecken wird. Das Brennen in der Speiseröhre fühlt sich an, als hätte ich heißes Wachs geschluckt.
Ich ziehe ebenfalls einen Zehn-Euro-Schein hervor und reiche ihn diesem Ismael.
„Ist schon gut“, sagt er aber mit einer abwehrenden Handbewegung.
Ich halte ihm den Schein noch mal extra hin wie einem fremden Kind, das sich nicht fürchten soll.
„Nein, danke“, sagt er aber richtig stolz und lächelt. „Sie sind eingeladen.“
Irgendwie geht da etwas in mir durch. Aus einem Impuls heraus, wie ich es gar nicht kenne, breite ich plötzlich die Arme aus und umarme diesen Palästinenser. Mir kommen fast die Tränen.
„Na na“, sagt er nur.
Da gucke ich mich scheu um und lasse gleich wieder los.
„Auf Wiedersehen“, sage ich schnell und gehe davon.
„Schalom!“, höre ich noch, ehe ich schon hinter der Baumreihe verschwunden bin, die vom Platz wegführt.
Die zweite Halbzeit lasse ich aus. Ich bin kein Typ für die Masse. Ich gehöre eigentlich nicht dazu, nicht wirklich.
Als ich mit dem Auto zurückfahre, ist es mir gerade egal, ob die anderen Fahrer die Regeln einhalten. Hier soll ja auch eine Straßenbahn gebaut werden. Dann werden ganz andere Regeln gelten. Dann werden wir alle eingesperrt und zu Ölsardinen gemacht. Dann haben sie die Stadt hier auch kleingekriegt.