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Kap. 22 [Wilke spricht]

Zum Thema "Frisör" (bzw. "Frisöse")

Freitag 24. April 2020, von Andreas Venzke

Da die Friseurgeschäfte als so wichtige Institutionen nun wieder öffnen, wird es für die Einen wie die Anderen vielleicht sogar erleichternd sein, nicht wieder an die Zustände anknüpfen zu müssen, wie sie Wilke hier beschreibt.

 

Andreas Venzke: Wilkes Tag

So etwas von charakterlos
Andreas Venzke/So etwas von charakterlos (2020)

 

22. So etwas von charakterlos

Ich empfinde den Frisör eigentlich wie eine Bedrohung. Immerhin habe ich mich jetzt durchgerungen und es wieder zu dem geschafft.
Kaum sind wir in dem Laden, geht meine Frau sofort auf die Frisöse zu, die ich gar nicht kenne, und redet mit der, so als ob ich es nicht hören soll. Dann nicken sie sich lächelnd zu.
Meine Frau kommt zu mir und sagt: „Also, ich gehe jetzt!“
„Wie, du gehst?“, frage ich etwas erschrocken zurück.
„Na, den Einkauf machen“, antwortet sie.
Als ich sage, „Ach so!“, geht sie tatsächlich gleich los, so schnell, dass ich gar nicht mehr reagieren kann.
Es kommt mir fast so vor, als ließe sie mich im Stich, aber ich habe manchmal halt auch meine Empfindlichkeiten.
Etwas irritiert sehe ich mich um, als mich die Frisöse schon zu sich bittet. Außer mir ist nur eine andere Kundin im Laden, die, mit einem riesigen Haarturm versehen, auf ihr Smartphone starrt. So ein Verhalten von meiner Frau - was ist denn das für ein Zeichen? Oder hat sie einen Termin ausgemacht, ohne mir Bescheid zu sagen? Das wäre ja wieder typisch.
Ich gehe zum Kleiderständer und hänge meine Jacke auf. Darauf hätte mich diese Frisöse eigentlich selbst aufmerksam machen können, finde ich.
Sie fragt mich nach einem Kaffee, und ich sehe sie überrascht an.
Ein Kaffee beim Haareschneiden, überlege ich. Was ist das schon wieder für eine neue Masche? Wenn da Haare in die Tasse fallen!
„Gehört zum Service“, sagt die Frisöse lachend.
Ich schüttele nur den Kopf und setze mich langsam auf den Frisierstuhl, auf den sie zeigt. Mit beiden Händen halte ich mich an den Armlehnen fest, und ich merke, wie ich dabei etwas zittere. Nun gilt es.
„Also schneide ich so, wie Ihre Frau es will“, sagt die Frisöse seltsam grinsend. „Über den Ohren frei, hinten abgestuft und oben ein bisschen länger lassen. Ok?“
„Ist in Ordnung“, sage ich und lasse mir dieses Kunststofftuch überhängen, unter dem ich immer schwitze wie in der Sauna, also wenn ich der Sauna etwas abgewinnen könnte.
Während die Frisöse mit ihrer Arbeit anfängt, versuche ich mich nicht zu bewegen.
Schon die Berufsbezeichnung ist etwas Obskures, überlege ich: Heute geht man ja eher zu seiner Frisöse oder Frisörin statt zum Frisör. Ich habe einen trockenen Mund. Ich muss nun jemandem nahe sein, der vielleicht sogar ein Mann sein könnte, und dann was für einer! – oder eben dieser Frau hinter mir, mit den Vögelchen, die sie auf dem einen Arm tätowiert hat.
Sie wird versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Frisörläden sind Klatschbuden und noch dazu von Frauenklatsch, den ich hasse und dem ich mich deswegen prinzipiell nicht ausliefern werde. Ich bin immer stolz darauf, wenn ich beim Frisör auf die Frage, wie mir die Haare geschnitten werden sollen, antworten kann: ”Schweigend!” Der Witz stammt, meine ich, von Bismarck, und für mich ist er eigentlich ernst gemeint. Leider hat ihn mir meine Frau hier gleich am Anfang verdorben.
Eine viertel Stunde sitze ich schwitzend auf dem Frisierstuhl und schweige. Nach einer Weile bereitet es mir sogar Genugtuung, dass die Frisöse verbal nicht an mich herankommt, auch wenn sie mit ihren Vögelchen noch so locker zu sein scheint. Es verschafft mir sogar eine besondere Zufriedenheit, mich von ihr nicht besiegen zu lassen. Ich spüre ihre zunehmende Nervosität und denke bei mir, wie Frauen doch so anders sind, dass sie nicht eine viertel Stunde mal nicht tratschen können, dass sie mal eine viertel Stunde ruhig ihrer Arbeit nachgehen.
Immerhin gilt ja diese Arbeit inzwischen schon als Kunst, und während früher jeder für einfaches Geld einen einfachen Haarschnitt bekam, muss man sich heute auf künstlerische Sitzungen einlassen und entscheiden, ob diese Strähne, dieser Scheitel und diese Koteletten zum persönlichen Stil passen. Da soll so eine Frisöse ruhig einmal spüren, wie sie einen Vorgang aufbläht, der eigentlich in fünf Minuten beendet sein müsste! Kaum jemand geht noch konzentriert seiner Arbeit nach. Alles wird künstlerisch oder politisch überhöht. Mein Herr Sohn hätte dafür bestimmt vollstes Verständnis. Er würde bestimmt über die Bedeutung jeder Strähne in ihrem Gesamtzusammenhang sprechen und mit der Frisöse die gesellschaftlichen Aspekte ihrer Arbeit erörtern.
Endlich kommt meine Frau zurück. Wo sie so lange geblieben ist, habe ich mich schon gefragt. Hat sie bei Lidl wieder jedes Regal durchgeguckt?
Als wäre ich nur ein Patient auf dem Operationstisch redet die Frisöse sofort mit meiner Frau, irgendetwas Belangloses, bei dem ich mich weigere zuzuhören. Sie tut eigentlich nur noch so, als würde sie an mir weiter frisieren.
Trotzdem wirkt die Frisöse plötzlich ruhiger, als hätte sie wirklich das Tratschen vermisst.
Als sie meiner Frau sagt, dass man die Butter bei Lidl eigentlich immer am billigsten kaufen kann, kommt mir das so vor, als müsste sie auch mir damit bestätigen, wie selbstbewusst sie doch ist. Und wie aus Protest hält sie mir sofort den Spiegel hin, ohne ihr Werk noch mal zu überprüfen, wie das jeder normale Handwerker zum Schluss macht. Ich kann da eigentlich nur auf die Vögelchen an ihrem Arm gucken, die auch noch mit Farbe gefüllt sind.
Sie kann es wohl nicht abwarten, denke ich mir, mich los zu sein. So etwas von charakterlos.
Ich werfe ihr erst beim Aufstehen einen Blick zu, der sagt: Das soll also mein Geld wert sein? Und können Sie nicht mal eine viertel Stunde ohne zu tratschen durcharbeiten, ohne gleich so nervös zu werden?
Ich zahle schnell und sage nur noch: „Machen Sie zwanzig! Danke!“
Als ich meine Jacke nehme und wortlos aus dem Laden gehe, sehe ich noch, wie meine Frau die Frisöse geradezu versteckt anblickt und mit den Schultern zuckt.
Was soll das, frage ich mich und merke, wie eine Wut in mir aufsteigt. Was machen die Frauen da wieder unter sich aus? Das ärgert mich mal wieder.
„Wo gehen wir hin?“, frage ich auf der Straße gleich und warte nur darauf, dass meine Frau zurückfragt: Wohin?
Als sie nur die Augenbrauen hochzieht, ist gleich wieder klar, wer zu entscheiden hat.
„Gehen wir in den Kaiser“, sage ich, „da ist nicht so teuer. Die haben Mittagsmenü.“
Ich rechne aus, dass ich beim Frisör immerhin sechs Euro gespart habe, weil es der billigere war und ich einen Euro weniger Trinkgeld gegeben habe als sonst. Mehr hatte die Frisöse mit ihrer Art auch wirklich nicht verdient.

© Andreas Venzke