Wer kennt noch die alten Geschichten aus Hofsgrund? Sie sind verschüttet und verschlossen, wie es bis vor kurzem der ganze Bergbau war, der hier oben einst die Höfe und unten im Tal die große Stadt Freiburg reich gemacht hatte. Aber manche Geschichten sind so stark und gehen so tief, noch tiefer als die Stollen im Schauinsland, dass man sie manchmal noch immer hört, auch wenn sie niemand aufgeschrieben hat.
Doch sind nicht heute, in den Zeiten der „Sozialen“ Medien, diese Geschichten in ihrer Existenz gefährdet, weil sie nun wirklich keiner mehr hören will – oder weil sie keiner mehr erzählt?
Nun, ich möchte eine gern erzählen. Denn sie gehört zum Schniederlihof, dessen Leiter ich bin.
Hier lebte einst Maria, Tochter des Wolf Schneller, der 1593 den Schniederlihof gebaut hatte. Sie war verheiratet mit Benedikt Geißer, einem Wichtigtuer, wie sie fand, der sie nicht besser behandelte als ein Stück Vieh im Stall.
Zugleich lebte auf dem Nachbarhof ein junger Knecht mit Namen Hans, Hans Baumgartner. Sein Leben war von Anfang bis Ende bestimmt. Von acht Geschwistern, die bis dahin schon geboren waren und alle überlebt hatten, war er das vierte. Er würde nie den elterlichen Hof erben und sich immer als Knecht verdingen müssen. Zu dieser schönen Sommerszeit trieb er des Morgens die Kühe des benachbarten Hofs auf die Matten an der Rotlache. Maria sammelte dort eines Tages Kräuter, um den kleinen Käsle, die sie mit ihrer Mutter machte, ein wenig mehr als säuerlichen Geschmack zu geben. Da kamen sie ins Gespräch. Sie waren unter dem weiten Himmel ganz für sich.
Hans gefiel ihr. Sie konnte sich seinem Anblick gar nicht entziehen. Er schien nicht von hier zu stammen. Er hatte keine schwarzen oder dunklen Haare, war nicht gedrungen und breit und auch nicht verschlossen und misstrauisch wie fast alle Leute auf dem Berg. Er war groß mit langen Beinen, hatte leuchtend blaue Augen und feuerrote Haare. Ob er wohl mit dem Teufel zu tun hatte, dachte Maria zunächst. Aber dann hätte der Teufel sehr lieb sein müssen oder wirklich sehr geschickt darin zu täuschen. Hans machte Späße, zog Grimassen und blieb doch ernst, wenn er erklärte, dass er sich nie zum Schniedesel machen ließe, der noch mit dem Kopf nickt, wenn man ihn tritt. Er hatte so viel Witz, fand Maria, und war genau das Gegenstück zu ihrem Benedikt, der ihr versprochen worden war. Sie lachte in einem fort.
Von nun an hörte sie morgens immer nach den Kühen von Hans, die in diesen herrlichen Sommertagen vor Glück zu brüllen schienen. Maria sammelte nun viel zu oft Kräuter, und doch musste sie manchmal der Mutter erklären, warum ihr Korb nur halbvoll war, obwohl sie den ganzen Vormittag draußen verbracht hatte. Je wohler sie sich mit Hans fühlte, desto herzloser empfand sie ihr Zuhause. Sie spürte, da zog etwas auf wie ein Sturm.
An einem Tag wollte Benedikt von ihr Besitz ergreifen wie von einem Tier, so kam es ihr vor. Sie presste die Beine zusammen, und er hätte sie körperlich brechen müssen, um zu bekommen, was er wollte. Aber er war doch nur ein Maulheld und wich wie ein Hund zurück, als Maria das Beil, mit dem sie gerade Holz hackte, fest packte.
An einem anderen Tag hatte Hans endlich ihre Hand genommen, und zu ihrem Glück brauchten sie nicht mehr. Sie lagen im Gras mit nichts als dem Himmel über sich und spürten, wie sie ein Blut waren, das durch beide ihrer Körper floss. An dem Tag verprügelte sie ihr Vater. Er hatte von anderen Bauern gehört, dass sie sich mit dem Hans Baumgartner traf, einem Knecht auf unterster Stufe. Maria durfte ihn nicht mehr treffen.
Aber was sollte sie machen? Es zog sie zu ihm hin wie ein Magnet. Hans schien an allen Ecken auf sie zu warten, wenn sie auf dem Weg ein paar Äpfel vom Baum schüttelte, Beeren sammelte oder Pilze suchte, dann besonders. Dann war er da, hatte seine Kühe an zwei Tannen festgebunden, und suchte mit, um mit Steinpilzen den Korb schnell übervoll zu machen, damit sie sich um so länger küssen konnten.
An einem Tag gab es zuhause wieder Prügel, wobei ihr Vater, der nur mit Mühe lesen konnte, ihr stockend und zornesrot aus einem Schreiben vortrug, das der Vogt im Auftrag des Klosters verfasst hatte. Die wichtigste Stelle wiederholte er dreimal: Ihr wurde geboten, dass sie des Baumgartners mit Worten und Werken solle müßig gehen.
Maria schwieg. Sie wusste, Hans würde auf sie warten, und sie wusste, dass er wusste: Sie würde auf ihn warten.
Ihre Liebe war zu fest, als dass Gesetze sie brechen konnte. Und diese Liebe würde für sie beide immer neue Wege finden sich zu treffen. Passend zu den heißesten Tagen im Herbst hatten sie bald ihr ganz eigenes, geschütztes Versteck gefunden: Einen alten Stollen im Gegendrum. Der ging fast fünfzig Fuß in den Berg, und keiner wusste mehr davon oder beachtete ihn mehr. Hans hatte ihn entdeckt und ihr erklärt, was es damit auf sich hatte. Da hatten die Bergleute vor zweihundert oder dreihundert Jahren versucht, einen Zugang zu einer Erzader zu finden. Aber sie hatten keinen Erfolg gehabt und es an der Stelle aufgegeben.
Maria hatte ihre Angst bald überwunden. Im Sonnenschein stieg sie in den Berg, tapste gebückt immer weiter, bis in die schwärzeste Dunkelheit. Zwischen den kalten Wänden fiel sie dann in die warme Umarmung von Hans. Beim Licht einer Kerze liebten sie sich in der Tiefe der Erde, auf einem Bett aus Zweigen, Laub und Heu. Und manchmal saß Maria allein im Gang zwischen Licht und Finsternis und fühlte sich doch sicher wie in Mutters Schoß. Wenn sie dann ein Geräusch hörte, wusste sie, wer in ihre Arme kam. Sie hatten den Himmel nun in sich.
Doch wieder verrückte ein Tag die Welt. Als Hans sie wieder einmal aus dem Stollen entließ, sah sie weit entfernt, dass sich hinter einer der mächtigen Weidbuchen jemand schnell versteckte. Als sie nach Hause kam, war ihr Mann nicht anwesend. Da wusste sie, nun würde es kein Erbarmen geben.
In ihrem Stollen konnten sie und Hans gar nicht mehr voneinander lassen. Es dauerte nur eine Woche, als ein Bote wieder ein Schreiben überbrachte, diesmal vom Abt des Klosters höchstselbst gezeichnet, das diesmal nicht einmal Schläge bedeutete, sondern Schlimmeres. Darin stand: Sie habe die Ehe gebrochen mit dem Baumgartner und werde deswegen aus der Kirche ausgeschlossen. Das nahm sie ohne Rührung auf. Nur als ihr Vater erklärte, er habe dafür gesorgt, den Baumgartner an einen Hof drüben an der Holzschläger Matte zu versetzen, schluchzte sie hörbar auf.
In den nächsten Tagen wartete sie noch in ihrem Stollen, manchmal stundenlang, und wollte ihn gar nicht mehr verlassen. Manchmal trat sie erst mit der untergehenden Sonne wieder ans Tageslicht. Sie rechnete sich aus, wie lange Hans bis zu ihr brauchen würde, zwei oder drei Stunden, und dann wieder zurück. Hans kam nicht mehr.
Im Hof nahm sie alle Gespräche schweigend auf, immer nur darauf bedacht, dass vielleicht ein Wort zu Hans fiele. An einem Tag geschah dies endlich, und ihr Schweigen wurde endlos. Da sagte Benedikt laut am Mittagstisch, satt und voller Genugtuung, dass dieser Gimpel von Baumgartner nun ein Knappe geworden sei. Er gehe von der Seite des Sonnenniedergangs jeden Tag in den Berg.
Maria blieb auf dem Hof und ging nicht mehr aus und schwieg. Sie wusch und putzte und molk und machte den Stall und das Essen. Aber sie selbst aß kaum noch. Und sie, die immer fröhlich gewesen war, mit allen scherzte, lästerlich so oft, sie lachte nicht mehr. Ihr Mann Benedikt tadelte sie manchmal, dass sie nun also wüssten, wie Gottes Strafe sei. Aber dann sah sie durch ihn hindurch, als stünde er nicht hämisch grinsend vor ihr. Bloß wenn er sie aus seinem ehelichen Recht heraus noch greifen wollte, drohte sie ihm auch ohne Beil in der Hand, nur mit einem Blick, der tödlich war. Dann verging ihm doch das Grinsen.
Als aber der Winter kalt ins Land zog, aß sie wieder, und sogar reichlich, und sie wurde rund, nahm aber nur am Bauch zu. Auch Benedikt verstand bald, was das bedeutete, und nun hasste er Maria. Denn was in ihr wuchs, konnte nicht von ihm sein. Das, was es auslöste, hatte seine Frau schon lange nicht mehr zugelassen.
Fortan ging er Maria aus dem Weg, als hätte sie die Seuche. Während sie aber trauerte, kochte in ihm die Wut. Einige Male nahm er sich heimlich das lange Küchenmesser und traute sich doch nicht zuzustechen.
Doch eines Tages klarte sich seine Laune wie nach einem Gewitter auf. Von Hof zu Hof ging die Meldung, der Baumgartner sei verschollen. Er sei nach der Schicht nicht aus dem Bergwerk gekommen, auch Stunden später noch nicht, und noch immer nicht aufgetaucht. An seinem Arbeitsplatz im Berg habe man ihn nicht gefunden.
Recht schnell kam im Schneefall ein Bergmann nach hinten zu Schnellers Hof und berichtete, während Maria ihm atemlos zuhörte und sich hinsetzte, um nicht ohnmächtig umzufallen: Vielleicht sei der verrückte Baumgartner auf eigene Faust in alten Gängen weiter in den Berg gegangen. Vielleicht wollte er auf eigene Faust Silber finden und damit seine Geliebte erlösen. Auf jeden Fall könnten sie nichts machen als zu warten, dass er wieder aus dem Berg komme. Sie selbst würden sich in den Tiefen nicht auskennen. Vielleicht sei der Baumgartner ja auch in einen Schacht gestürzt. Das Leben eines Froners liege nun mal in der Hand Gottes.
In seiner Freude brachte ihm Benedikt Brot und sogar guten Wein von unten aus dem Tal. Er wollte alles von dieser Geschichte erfahren. Maria verkroch sich in den Stall und hatte keine Tränen.
Als hätte sie sich danach den tiefsten Schmerz sogar herbeigewünscht, brachte sie am nächsten Tag ihr Kind zur Welt, im Stall, fast lautlos, so wie die Kühe, die das selbst so gut kannten und ihr Wärme gaben.
Es war ein Mädchen mit vollem roten Haar, und sie liebte und liebkoste es und zeigte es keinem, der es sehen wollte, auch nicht der Mutter, von der sie keine Unterstützung bekam. Benedikt wollte es nicht sehen. Und sie wiegte und streichelte es und legte es sich immer wieder an die Brust. Aber die Kleine wollte nicht trinken und schrie nicht und war ganz still. Maria schlief tagelang nicht, so kam es ihr vor, während ihr Töchterlein aber immer müder und ruhiger wurde und nie trank und schließlich nicht mehr atmen wollte.
Als sie ihr totes Kind im Arm hielt und es in die gute Stube trug, und als Benedikt kam und auflachte, spuckte sie vor ihm aus. Ihr Vater war es dann, der ihr eine Ohrfeige gab, dass ihr die Wange anschwoll. Und er schrie sie an: Der Bankert war nicht vom Herrn gewollt. Der Herr hat gerichtet.
Nachdem sie traumlos eine ganze lange Nacht neben ihrem Kind auf dem Boden geschlafen hatte, das immer kälter wurde und nicht den Segen der Kirche bekommen würde, schlich sie am frühen Morgen, noch ehe die Tiere im Haus erwachten, hinaus in die Kälte.
Die Leute verstanden nicht, was mit Maria geschehen war. Sie wollten es nicht verstehen. Aber sie wussten Bescheid. Ihre Spuren im Schnee konnte man leicht verfolgen, auch wenn sie sich auf dem weiten weiten Weg zum Bergwerk schließlich mit anderen Spuren mischten. Die Leute nicht, auch nicht ihr Mann Benedikt, auch nicht ihr Vater Wolf, suchten genau nach ihr, einer Befleckten, die sie war. Maria war verschwunden, wie eine Maus im Boden.
Benedikt lebte in den Jahren danach auf. Als seine Frau Maria endlich für tot erklärt worden war, nahm er sich eine neue Frau und hatte viele Kinder mit ihr, vor allem auch drei Söhne. Es schien ihn nicht einmal so sehr zu treffen, dass der Krieg, der Dreißigjährige, doch nicht vor den eigenen Toren Halt machte. Bis dahin war man in Hofsgrund verschont geblieben und hatte von all den Gräueln auf deutschem Boden nur gehört. Schließlich hauste man unsichtbar vom Tal weit oben am Berg, wo im Sommer nur Gras wuchs und im Winter nur Schnee lag. 1632 fielen die schwedischen Soldaten in Hofsgrund ein und zerstörten den Bergwerksbetrieb und alle Höfe. Danach ging das Leben kläglich weiter. Aber es ging auch wieder aufwärts, je nachdem, wie man auf die Welt sah. Es gab neue Entwicklungen wie endlich das Ende des Krieges, den Versuch, den Bergbau wieder in Gang zu bringen, und leider den fortwährenden Kampf des Reiches gegen die Franzosen. Benedikt Geißer lebte zufrieden und fand sich wichtig und wichtiger. Er zeigte sich immer mal wieder in Uniform, mit kurzer Wehr und Degen, und prahlte, wie ein Schwede seine Frau bedroht und er diesen erschlagen habe. 74 Jahre wurde er alt und überließ doch zu Lebzeiten seinen Söhnen nicht den Hof, nur lehensweise. Von Maria war nie mehr die Rede. Sie blieb verschwunden, und sie verschwand auch bald aus dem Gedächtnis der Leute.
Wenn aber in den dunklen Winternächten, wenn der Schnee alle Geräusche dämpfte, in der abgelegenen Hofsgrunder Welt doch die Geschichten zur Neige gingen, dann geschah es noch auf einigen Höfen, wie das Aufflackern des Kienspans, dass man sich geheimnisvoll zuraunte: Gell, ’s Mariele isch mit d’m Kindle ins Bergwerk gange.
Im Schniederlihof jedoch, dort gestand man sich noch lange, wenn in stillen Nächten kein Wind ging und im Haus alles ruhig atmete, Mensch wie Tier, man habe es im Berg klopfen gehört, leise pochend, eins zwei drei, eins zwei drei, manchmal stundenlang. Und alle wussten: Das ist wieder die Marie. Sie tanzt mit dem Kind und ihrem Baumgartner.
© Andreas Venzke
Februar 2024