Ihr Romanautoren, Filmemacher und moderne Stefan Zweigs, ihr habt dieses Thema noch nicht entdeckt, nicht wahr, sonst hättet ihr es schon aufgegriffen oder verwurstet, je nach Sichtweise und Metier. Ich gebe es euch hiermit an die Hand, den Buch- und Filmstoff von dem Zusammentreffen zweier kultureller Giganten, schon angesichts ihrer Namen bezeichnend: Leonardo da Vinci und ... Hans Niesenberger!
Wenn ihr im Freiburger Münster oder im Mailänder Dom wandelt, schaut einmal hoch, ausdrücklich dann, wenn ihr jeweils unter der Vierung steht! In Freiburg seht ihr dort die alte, im Innenraum „versteckte“ Kuppel des romanischen Teils des Münsters, eine Achteckkonstruktion über einem Viereck, in einer Höhe von 25 Metern aufliegend, mit einem Durchmesser von 12 Metern.
Dasselbe im Mailänder Dom, wo allerdings die Kuppel fast 20 Meter Durchmesser hat, auf einer Höhe von 45 Metern aufliegt und über ihr ein Turm noch einmal 68 Meter aufragt.
Und dann schaut auch noch ausdrücklich auf die jeweilige Gewölbekonstruktion daneben, in Freiburg zumal auf die beiden verschiedenen Formen im Langhaus und im Chor, auf den Unterschied zwischen Hoch- und Spätgotik!
Nun also das Thema: Es muss im Jahr 1485 oder 1486 gewesen sein, da saßen diese beiden Herren zusammen, der noch junge Leonardo da Vinci, gerade einmal Anfang dreißig, und der alte Hans Niesenberger, schon siebzig Jahre alt.
Gemeinsam war ihnen, dass sie für den aufstrebenden, ehrgeizigen Herzog von Mailand arbeiteten, Ludovico Sforza. Der hatte ein Problem: Am Mailänder Dom waren alle Dächer von Langhaus, Chor und Seitenschiffen fertiggestellt, nur die Vierung musste noch überwölbt und mit einem Turm versehen werden, eine riesige architektonische Herausforderung.
In Erinnerung an die große Zeit der alten Römer schwärmte man in Italien von Kuppeln. Diese besonders galten als Ausdruck von Einfluss und Größe. Schon 50 Jahre zuvor hatte Brunelleschi das Maß auf die Spitze getrieben und über dem Florentiner Dom eine Kuppel von gewaltiger Dimension errichtet: Mit einem Durchmesser von 45 Metern. Nun hatte man in Mailand eine noch größere Kathedrale vorzuweisen, aber mit einer viel schmaleren Kuppel, über der man jedoch einen grandiosen tiburio errichten wollte.
Genau um dieses Problem zu lösen, hatte man verschiedenste Experten herangezogen, darunter den noch jungen Leonardo, und aus Deutschland einen der bekanntesten und erfahrensten Baumeister: Hans Niesenberger.
So stießen in Mailand am Ende des 15. Jahrhunderts Welten aufeinander, zwischen Italien und Deutschland, zwischen Jung und Alt, zwischen Forscherdrang und Lebensweisheit, zwischen Renaissance und Gotik.
Wie wunderbar ließe sich das szenisch ausschmücken: Der alte Hans, der dem jungen Leonardo erklärt, wie man überhaupt ein Gewölbe in großer Kunst gestaltet. Dazu legt er ihm Zeichnungen vor, auch vom Freiburger Münster, wo er dafür zuständig ist, endlich den halbfertigen Chorbau zu vollenden. Andere hätten nicht so leicht verstanden, wie das Prinzip eines solchen Netzgewölbes funktioniert. Das Auge ist da leicht überfordert, sich an all den Linien zu orientieren. So ist es ja auch gemeint: Sich von der Kunstfertigkeit der gotischen Architektur überwältigen zu lassen.
Leonardo versteht das Prinzip rasch – und bleibt davon unbeeindruckt. Er hat in Italien längst von Vitruv gehört, von der alten römischen Baukunst, die in aller Munde ist: Da geht es um einfache klare Formen, um Quadrat und Kreis, um Kuppeln.
Und so könnte man sich das wunderbar vorstellen, wie die beiden an einem Eichentisch unter dem blauen, noch unverschmutzten Mailänder Himmel zusammensitzen und sich zu verständigen versuchen. Besonders für den Deutschen ist das schwierig: Was genau heißt tiburium auf Deutsch, das Niesenberger als tiburio im Mailänder Dialekt immer wieder hört? Ist es die Vierung? Nein, eher etwas, was über einer Wölbung gebaut wird, also eine Art Vierungsturm. Und was heißt „Kappe“, was „Gurte“, was „Stützpfeiler“, was „Elle“, die für den alten Mann das Maß aller Dinge ist? In Freiburg ist das ganze Münster nach dem Maß von 21 Ellen gebaut, einer so besonderen Zahl, dreimal die Sieben, vereint also die heilige Dreifaltigkeit mit der heiligen Zahl Sieben, die sich selbst aus der Drei und Vier zusammensetzt, also aus der Verbindung von Gott und der Welt mit ihren vier Jahreszeiten und ihren vier Himmelsrichtungen.
Leonardo würde zu verstehen versuchen und alles mit leichter Hand skizzieren.
Er würde sagen: „Ein Tonnengewölbe drückt die Last nicht nach außen.“
Und Hans würde erwidern: „Aber der Ludovico will nicht nur eine Riesenkuppel über der Vierung, sondern auch mit einer Riesenlast darauf. Wenn die Kuppel nur vier Kanten hat, liegt sie viel stabiler auf, und die Druckkräfte leiten wir zusätzlich nach außen ab.“
„Wir könnten doppelschalig bauen“, würde Leonardo sagen, „wie Brunelleschi in Florenz. So gäbe es nicht eure Strebepfeiler.“
Hans würde versuchen, ruhig zu entgegnen: „Aber der Mailänder Dom ist unsere Art Architektur. Da können wir nicht auf einmal mit massiven Mauern arbeiten, noch dazu in einer solchen Höhe. Je mehr Gewicht man obendrauf packt, desto stärker drückt die Last nach außen.“
Der junge Leonardo, der all sein Wissen aus Büchern und praktischer Anschauung hat, würde fortfahren: „Aber der tiburio muss hoch sein, sehr hoch, weit über hundert braccia, denn er darf nicht nur von weitem zu sehen sein. Wie sähe das denn aus mit euren Strebepfeilern!“
Der alte Hans würde nun ruhig antworten, weil er am Ende seiner Tage nicht mehr den Nerv hat, völlig neu zu denken und und zu planen: „Der ganze Dom ist doch so gebaut. Unsere Architektur wirkt im Inneren, nicht außen!“
In welche Szene ein solches Gespräch eingebettet wäre – bitte, Schriftsteller und Regisseure, ihr seid gefordert! Gleich käme bestimmt Bramante als Hofarchitekt um die Ecke, um sich dazuzusetzen, oder Ludovico Sforza persönlich, mit seinen Beratern, die dem Deutschen seine bautechnischen Mängel vorwerfen würden ...
Den Ausgang jedoch würde ich, wenn ich gefragt wäre, folgenderweise gestalten: Die beiden trinken sich zu, nehmen sich in die Arme und machen sich lustig über den Herzog, dem man aber in seiner Bedeutung und Größe loben müsse, damit er noch mehr Geld für die Kunst lockermacht.
Also denn, ihr Romanautoren usw.: Wenn ihr dann das große Opus zu dem Stoff webt, näht doch meinen Namen an einer kleinen Stelle mit ein!
Anmerkung: Tatsächlich gibt es in den Skizzenblättern von Leonardo da Vinci eine kleine Abbildung, mit ein paar Strichen dahingeworfen, die das Prinzip des Netzgewölbes zeigt, wie es dann im Chor des Freiburger Münsters verwirklicht wurde. Dazu hatte Leonardo geschrieben: „del tedesco in duomo“
Auf dem Blatt finden sich sonst Zeichnungen von Kuppelgewölben, auf anderen Blättern Entwürfe von Kirchengebäuden, von denen Leonardo zu der Zeit eine Vielzahl anfertigte. Er bewarb sich eben in jenen Jahren als Architekt für den Mailänder Dom. Von seinen Kenntnissen überzeugt, schrieb er an den Fürstenhof: "So wie Mediziner, Pfleger und Schwestern verstehen müssen, was ein Mensch ist, was das Leben ist und wie es durch das Gleichgewicht und die Harmonie seiner Bestandteile aufrechterhalten wird, wobei Disharmonie zu seinem Ruin und seiner Zerstörung führen, so ist jemand, der diese Dinge zu ihrer Reparatur gut kennt, in einer besseren Lage als jemand ohne dieses Wissen. Die Bedürfnisse der kranken Kathedrale sind ähnlich. Was man braucht, ist ein ärztlicher Baumeister, der weiß, was ein Gebäude ausmacht und auf welchen Regeln die rechte Bauweise basiert und woher diese Regeln stammen und in welche Abschnitte sie unterteilt sind und aus welchen Gründen die Struktur zusammengehalten wird und sie deswegen bestehen bleibt und was die Beschaffenheit des Gewichts und der Kraftlinie ist und in welcher Weise man es aufeinander beziehen sollte. Wer auch immer die wahren Kenntnisse dieser Dinge hat, wird Euch mit seiner Intelligenz und seiner Arbeit überzeugen.“
Leonardo verließ Mailand, als es zu einem Krieg kam, für den er sich als Militärstratege bei Ludovico Sforza in Stellung gebracht hatte. Der Herzog verlor den Kampf, der gegen den französischen König gerichtet war, und wurde gefangen genommen. Zurück blieb nicht nur Leonardos Vorschlag für den Bau des tiburio, sondern vor allem das Modell für das größte Reiterdenkmal der Welt, das er für den Herzog schaffen wollte. Aber das ist ein eigenes Thema, schon oft bearbeitet.
Hans Niesenberger war zu jener Zeit einer der bedeutendsten Baumeister nördlich der Alpen. So begehrt war sein Wissen und so angesehen seine Handwerkskunst, dass er gleich in mehreren Städten vertraglich gebunden war, in Straßburg, Freiburg, Mailand – was ihn offensichtlich überforderte, weil er überall wegen Baumängeln angeklagt wurde. Aus Mailand brach er im August 1486 wohl überstürzt ab.
In Freiburg hatte er die Situation vorgefunden, dass der ursprünglich geplante Chor, der bereits zur Hälfte aufgemauert war, über 130 Jahre eine Bauruine geblieben war. Erst ab dem Jahr 1471 hatten die Bürger Freiburgs wieder die Mittel, um den Chor endlich fertigzustellen. Für diese bedeutende Aufgabe hatten sie Hans Niesenberger die Bauleitung anvertraut. Er sprach zwar gleich zu Beginn von „einem großen, schweren Bau“, aber auch von seiner Hoffnung, „den zu Ende zu bringen“. Trotzdem sollte ihm das nicht gelingen. Denn auch in Freiburg wurde er vor dem Ende seines Lebens noch angeklagt. Einer der entscheidenden Gründe bezog sich auf Fehler, die wohl während seiner Abwesenheit entstanden, vielleicht weil Niesenberger seine wichtigsten Arbeiter mit nach Mailand genommen hatte. Trotzdem ist die Ausführung des Chors eindeutig sein geistiges Werk, auch noch das überragende Netzgewölbe, das er in Mailand dem jungen Leonardo da Vinci skizziert hatte. Doch durfte er es zu seinen Lebzeiten nicht mehr sehen: Es wurde erst fast zwanzig Jahre nach seinem Tod fertiggestellt, nur mit leichten Backsteinen ausgefüllt, sodass es kaum Schub nach außen entwickelt.
Übrigens wurde die Vierung des Mailänder Doms Jahre später doch recht schnell gebaut, nachdem weitere Experten und Gremien nach einer überzeugenden Lösung gesucht hatten. Auf Drängen der fabbrica, der Bauhütte, hatte man sich unter der Leitung von Giovanni Antonio Amadeo doch für ein achteckiges Gewölbe entschieden, das auf sogenannten Trompen ruht. So konnte man tatsächlich auf der Kuppel der Vierung einen eigenen, 68 Meter hohen und 14000 Tonnen schweren Turm errichten, gekrönt von der madonnina, einer goldfarbenen Marienstatur, dem heutigen Wahrzeichen Mailands. Derjenige aber, der damit seine Macht vervollkommnet sehen wollte, der Herzog Ludovico Sforza, starb 1508, nach acht Jahren in französischer Gefangenschaft, acht Jahre nach der Vollendung des tiburio, den auch er also nicht mehr bewundern durfte.
© Andreas Venzke, 2019