Als das Langhaus des Freiburger Münsters vor so vielen Jahrhunderten längst Form angenommen hatte, als man endlich in großer Höhe den Dachstuhl errichtet hatte, damit die Handwerker im Kircheninneren nicht mehr dem Regen ausgesetzt waren, da erschien an einem Sonntagmorgen in aller Frühe eine schwarz gekleidete Frau auf der menschenleeren Baustelle. Sie kam auf der Südseite durch das Lammportal und sah sich prüfend um, als wollte sie sich vergewissern, dass alle Arbeiten gut vorankämen. Bedächtig ging sie zwischen den verschiedenen Teilen des Lehrgerüsts für das noch zu mauernde Dachgewölbe umher, strich manchmal fast zärtlich über die zugehörigen Steine und blieb dann an einem der gewaltigen Bündelpfeiler an der alten, unter dem Dach versteckten Vierungskuppel stehen. Da stand sie lange und schaute auf und ab, ehe sie wie selig lächelte. Immer wieder nahm sie den Kopf zurück und schaute hoch über sich auf den Pfeiler.
Das beobachtete der Parlier, der an diesem sonnigen Tag kurz vor ihr das Langhaus betreten hatte, um noch einmal die Arbeit der Steinmetze abzuschätzen. Er maß mit der Spanne seiner schwieligen Hand einen Gewölbeschlussstein aus, dessen kreisrunde Öffnung ein Steinmetz in monatelanger Arbeit mit herrlichem Pflanzenornament eingefasst hatte. Ein Maler hatte es in schönsten Farben noch hervorgehoben, es sogar mit Blattgold verziert. Vielleicht schon in der nächsten Woche würde der fast mannsgroße Schlussstein von unten nur aus weiter Entfernung zu betrachten sein.
Aus dem Augenwinkel blickte der Parlier immer wieder hin zu der Frau. Sie rührte sich nicht von der Stelle, und da ging er das ganze lange Kirchenschiff hindurch zu ihr. Er räusperte sich in ihrem Rücken, damit sie sein Kommen bemerkte. Als hätte sie ihn erwartet, drehte sie wie eine mausernde Katze schnell den Kopf zu ihm.
Der Parlier machte eine beschwichtigende Handbewegung und grüßte sie höflich. Sie war auch im Alter noch hübsch, wie er fand, mit ganz weißer Haut, hohen Wangenknochen und zarten Gliedern. Er sprach mit ihr erst allgemein über die Arbeit der Bauhütte, dann, als würde sie das Gespräch in diese Richtung lenken, über die Struktur der Pfeiler, dass man die Steine dafür am Anfang jeweils einzeln genau bearbeitet und also auch einzeln genau eingepasst hatte, dass dieses System dann mit dem Baufortschritt vereinfacht worden war. Dabei suchte er mit dem Blick die Wölbungen des Pfeilers ab – und sah plötzlich das Zeichen: Ein wenig versteckt in einer Kehle zweier schmaler Dienste!
„Ein Schlüssel“, sagte er laut und überrascht. Er hatte es vorher nie gesehen. Manche Steinmetze machten solche Späße, indem sie heimlich solche Zeichen in ihr Werk schlugen.
Die Frau errötete zwar wie ein schüchternes Mädchen, aber zugleich zog sie nickend wie eine Lehrerin, die recht behielt, die Stirn hoch.
Nun war die Neugier des Parliers angestachelt. Er machte nicht mehr viele Worte, fragte sie nur nach dem Schlüssel – und hielt sich den Finger an den Mund als Zeichen, dass er verschwiegen bleiben würde.
Die Frau sah den Parlier prüfend an, und er nickte ihr zu, als wäre er der Richter, dem sie im Prozess vertrauen könne.
Dann sagte die Frau mit heller Stimme:
„Dû bist mîn, ich bin dîn. / Des solt dû gewis sîn. / Dû bist beslozzen / in mînem herzen“,
worauf der Parlier einstimmte, weil jedermann das kleine Lied kannte:
„Verlorn ist das sluzzelîn: / Dû muost ouch immêr darinne sîn.“
Die Frau lächelte fein, als hätte ein Richter ihre Meinung bestätigt, und sagte leise, aber mit ganz klarer Stimme: „Ich lebte in Freiburg, als aus der Fremde bestellte Werkleute mithalfen, hier die Pfeiler für das neue Kirchenschiff aufzustellen. Und unter ihnen war ein junger Mann. Der machte mir den Hof. Wir haben uns gut verstanden und trafen uns manchmal, heimlich.“
„Das muss lange her sein,“ unterbrach der Parlier, „bestimmt eine Generation lang.“
„Noch viel länger“, fuhr sie fort und ihre Augen leuchteten groß. „Ich wurde dann einem wohlhabenden Mann in Gmünd versprochen, und ich zog mit ihm dorthin, ins Schwäbische. Nun, da er von mir gegangen ist, wollte ich noch einmal das schöne Freiburg sehen und feststellen, ob der Schlüssel passt.“
Der Parlier verstand nicht und sah hoch zu dem Schlüssel an dem Pfeiler.
Da fuhr die Frau mit einer Hand in ihr Gewand und zog einen Schlüssel hervor. Sie hielt ihn vorsichtig hoch zu dem Zeichen am Pfeiler, konnte es aber nicht erreichen. Der Parlier half ihr. Er nahm vorsichtig ihren Schlüssel, den sie ihm gern überreichte, stellte sich auf Zehenspitzen auf den Pfeilersockel, streckte eine Hand weit und hielt ihn vor das Zeichen im Stein. Der Schlüssel passte genau auf die Abbildung.
Die Frau sah zu Boden und atmete durch. Aber sie sah schnell wieder auf und sagte lächelnd: „Er kam aus Thann und wird vielleicht schon gestorben sein. Aber ich sehe, er hat sein Versprechen wahr gemacht, dass sein Schlüssel, den er mir zum Abschied geschenkt hatte, für immer hier drin sein muss.“
Der Parlier stand ganz starr und wusste nicht, was er sagen sollte.
Die Frau verabschiedete sich dann recht schnell. Sie drückte aber dem Parlier mit ihren feinen Fingern noch lange seine grobe, zerfurchte Hand, ehe sie mit zügigem Schritt durch das Nordportal des Querhauses hinausging.
Erst als sie hinter der Mauer des Kirchhofs verschwunden war, hob der Parlier seine Hand, in der etwas eingeschmiegt war. Er schaute auf den Schlüssel der alten Frau und machte eine Bewegung, hinter ihr herzulaufen. Doch er verstand und steckte ihn ein.
An einem der nächsten Tage, als an der ersten Gewölbekappe des Langhauses weitergemauert wurde, schlug der Parlier zur Verwunderung der Handwerker eine Einkerbung in einen Stein des Spitzbogens, der von dem Dienst mit dem Schlüsselzeichen getragen war. Sie waren überrascht, wie schnell und sicher er das Eisen führte, und sie dachten wohl an ein Glückszeichen oder an ein Bauopfer‚ als der Parlier dann den Schlüssel in der Einkerbung versenkte. Etwas später vermörtelte er selbst an dieses Bogenstück einen der leichten Steine der Gewölbekappe.
All das unterbrach die Arbeit der Steinmetze auf besondere Weise, und sie stimmten alle lachend ein, als er am Ende noch sprach: „Verlorn ist das sluzzelîn: / Dû muost ouch immêr darinne sîn.“
© Andreas Venzke, 2019