2018 war das Jahr, da wurde Dr. Dieter Salomon, der nach allen gutbürgerlichen Maßstäben die Stadt Freiburg im Breisgau lange Jahre erfolgreich regiert hatte, völlig überraschend abgewählt.
Es heißt, der Oberbürgermeister habe sich nicht für Kunst interessiert, und ganz bestimmt nicht für die zeitgenössische Kunst. Denn sonst hätte er etwa um „sein“ Rundfunk-Sinfonieorchester in Freiburg gekämpft. Das wurde mit dem aus Stuttgart fusioniert und damit abgeschafft.
Aber vielleicht ist es auch nicht jedermanns Sache, sich für etwas einzusetzen, was oft genug schräge Töne produziert und viel Geld verschlingt. Am Ende ging es doch immer ums Geld, und um die Macht, natürlich. Was denn sonst? Der Oberbürgermeister hatte aber auch die Aufgabe, die Stadt Freiburg überhaupt erst wieder finanziell auf die Beine zu stellen. Immerhin war sie bei seinem Amtsantritt derart verschuldet, dass die gesamte Verwaltung vor dem Kollaps stand. Das war bestimmt seine Sache, die er gut beherrschte und meisterte.
Und hatte er nicht doch auch die Kunst unterstützt, eine ganz bestimmte, die ihm hätte Mahnung sein können? Denn er machte sich doch für den Ausbau des Augustinermuseums stark, ein gigantisches Projekt, das bis heute Unsummen an Geldern verschlingt. Da wurde nicht nur das wichtigste Museum der Stadt von Grund auf saniert, sondern auch in Teilen neu gebaut. Man kann dort oft über Stunden, mit dem Museumspersonal, allein sein.
Nun gehört zum Augustinermuseum die Skulpturenhalle, die tatsächlich beeindruckend gestaltet ist.
Vielleicht hätte er ganz oben an der Wand die verschiedenen Figuren näher betrachten sollen, die einem dort so nahe sind wie sonst nicht, wie eigentlich nicht vorgesehen. Er hätte freilich auch mit dem Fernglas vor das Münster treten und ganz weit hochschauen können. Denn eigentlich sind diese Figuren, heute als Kopien, an ihrem Sockel im Münsterturm eingemauert, in einer Höhe von fast 70 Metern, so dass sie von unten winzig erscheinen. Doch haben sie es in sich.
An einem der höchsten Punkte seiner Stadt hätte er einen moralischen Maßstab finden können, besonders in Form einer Figur: Der des Ritters, des hochmütigen, der Verkörperung der superbia.
Nicht umsonst haben die Freiburger Stadtherren mit diesen Figuren ihren Münsterturm geradezu bewehrt. Zur Mahnung hängen sie da als Personifikationen der schlimmsten Sünden der Welt, während über ihnen Posaunenengel in alle vier Himmelsrichtungen vom Nahen des Jüngsten Gerichts künden.
Sechzehn lange Jahre hatte der Oberbürgermeister Freiburg regiert, als erster „Grüner“ in einer solchen Funktion, passend zu diesem Zentrum von umwelt- und systemschützenden Spinnern und Spießern, die ihre Mitbürger*innen schon sprachlich ein Stück weit zu besseren Menschen machen wollen, die nun in einer heute „Green City“ genannten Stadt wohnen dürfen, wo nichts so fortschrittlich ist wie die kommunale Politik. Die hat zwar eine moderne, durchregierte, sauteure Metropole geschaffen, kommt dafür aber ohne Innovation, ohne Vision, ohne einen modernen, alternativen Anspruch aus, grün nur durch den angrenzenden Schwarzwald. Freiburg – ein Erfolgsmodell! Da wollte er noch einmal für weitere acht Jahre als Oberbürgermeister regieren. Er hatte alle städtischen Denker und Lenker hinter sich.
Dann tauchte plötzlich ein Jungspund auf, ein Nobody, ohne politische Erfahrung, irgendwo aus der schwäbischen Provinz, und machte Versprechungen – alle eigentlich nicht durchzusetzen. Doch er redete mit den Leuten, hörte ihnen zu. Er löste den erfolgreichen Oberbürgermeister nicht nur ab. Er schickte ihn geradezu in die Wüste, so eindeutig waren die Wahlergebnisse.
Lange vorher hätte da für den Amtsinhaber vielleicht nur der Blick hoch zum Münsterturm gereicht. Wird dort oben nicht vor einer solchen Entwicklung gewarnt, tatsächlich in Stein gemeißelt: Wenn man gar nicht mehr zuhört, alles besser weiß, vom eigenen Tun überzeugt ist, andere in den Senkel stellt, wenn man nicht regiert, sondern herrscht?
Sieben Dreiecksformen leiten dort über zur Oktogonstruktur des Turmhelms, und wo sie an die Turmlaterne stoßen, wo die Wimperge der großen Maßwerkfenster ansetzen, standen den Baumeistern des Münsters also sieben Ecken zur Verfügung, um diese besonders zu gestalten. Die achte wird eingenommen vom Aufgang zum Münsterturm. Und worauf kommen sie in ihrem Glauben an die göttlichen Zahlen, die sie überall in ihrem herrlichen Bauwerk verewigt haben? Auf die sieben Hauptsünden oder Todsünden! Hoch über der Stadt haben sie diese in Stein gefasst, fein ausgearbeitet, bis ins Detail filigran aus dem Stein geholt, als da wären, in dieser Reihenfolge: gula, die Unmäßigkeit, ira, der Zorn, luxuria, die Unkeuschheit, invidia, der Neid, superbia, der Hochmut, acedia, die Trägheit, avartia, der Geiz.
Die wichtigste unter ihnen, gewissermaßen die Grundlage aller Sünden, ist der Hochmut, dargestellt als Ritter. Andere Figuren sind ein fressgieriges Schwein als gula, ein brüllender Mensch als ira, der sich in seinem Zorn geradezu in einen Löwen verwandelt, eine nackte Frau als luxuria, genannt die Freiburger Venus, ein grinsender Fettsack als avartia, der einen Geldtopf umklammert. Es fehlen zwei Darstellungen, nämlich invidia und acedia. Die entsprechenden Figuren sind in den „Zeitläuften“, wie Die Zeit schreiben würde, verlorengegangen.
Doch es geht um den Ritter, der nichts ist als das: Ein Ritter, und damit eine der wichtigsten Personen der damaligen Zeit, Sinnbild der Tugendhaftigkeit, angesehen wie ein Oberbürgermeister. Es brauchte kein weiteres Attribut, um den Hochmut darzustellen – außer vielleicht dem, wie der Ritter dort sitzt, nämlich rittlings, breitbeinig, die Hände auf die Knie gestützt (neudeutsch: manspreading). Und weil Geschichte nun mal nicht ohne grässliche Ironie auskommt, befindet sich ausgerechnet der Ritter in besonderer Nachbarschaft. Die verlorenen Figuren neben ihm, der Neid und die Trägheit, wurden ersetzt, einmal durch eine bedeutungslose, nichtssagende Figur, und dann durch eine, die wie die moderne Ausgabe des Ritters wirkt und ebenfalls den Hochmut personifiziert. Da hat sich in den 1920er Jahren der langjährige Münsterbaumeister Dr. Friedrich Kempf in Stein hauen lassen, in ordentlicher Bildhauerarbeit, sauber ausgeführt, ohne jegliche Ironie, ohne Hintersinn …
Und sieht er dem ehemaligen Oberbürgermeister nicht ganz ähnlich? Ist er nicht auch der, sozusagen vorweggenommen?
Nein, unsere Vorfahren lebten nicht im finsteren Mittelalter. Sie wussten wie wir von den menschlichen Schwächen. Aber sie haben an höchster Stelle davor gewarnt. Man muss beizeiten nur hochschauen!
© Andreas Venzke, 2019