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Jugendhaus in Bretten

Montag 10. Februar 2014, von Andreas Venzke

Bretten (cab). Zum Schreiben kam der promovierte Germanist eher zufällig. Um sein Studium zu finanzieren, übersetzte er für einen Verlag Bücher aus dem Englischen. Doch bald entstand der Wunsch, eigene Vorstellungen aufs Papier zu bringen. Schon sein erstes Buch, eine kritische Biografie über Johannes Gutenberg, fand Anklang. Weitere Bücher, etwa über Christoph Kolumbus und Francis Drake folgten, und bereits nach kurzer Zeit war der gebürtige Berliner ein gefragter Autor.

Jetzt war Andreas Venzke auf Einladung des AWO-Jugendhaus in Bretten zu Gast. Die im Frühjahr stattfindenden Autorenbegegnungen sind dort schon Tradition und mittlerweile ein fester Programmpunkt im kulturellen Leben Brettens. So fanden sich auch diesmal mehr als 60 Besucher, darunter viele Kinder aus der Schiller- und Hebelschule, trotz herrlichen Wetters in der Cafeteria ein, um den Autor kennenzulernen. Erst in den letzten Jahren hatte sich Venzke im Kinder- und Jugendbuchbereich ein zweites Standbein geschaffen und war dafür bereits mehrfach ausgezeichnet worden.

Seinem Brettener Publikum lässt der inzwischen in Freiburg lebende Schriftsteller die Wahl zwischen seinen beiden neuen Büchern: Der Geschichte vom "Grasesser", einem Jungen, der sich in seiner Umgebung nicht mehr zurecht findet und auf höchst ungewöhnliche Art darauf reagiert, und den Erlebnissen von "Carlos", einem Fußball spielenden jungen, der in Brasilien beheimatet ist. Die Überraschung: Die Jungs sind in der Überzahl und lassen sich die Fußballgeschichte nicht entgehen.

Doch auch die zunächst etwas enttäuschten Mädchen sind schnell von den Ereignissen um den südamerikanischen Jungen gefesselt. Venzke versteht es, nicht nur spannend und unterhaltsam zu schreiben, er gehört auch zu jenen Autoren, die ihren Figuren beim Vorlesen Leben einhauchen und so den Zuhörern ermöglichen, mit eigenen Vorstellungen in das Geschehen einzutauchen. Fast fünfzig Minuten liest der 40-Jährige am Stück, nur unterbrochen von der verwundert gestellten Frage "Könnt ihr immer noch?", und die Grundschüler kleben gebannt an seinen Lippen. Dabei ist es nicht nur das vordergründige Problem des kleinen Carlos, der in der Krise steckt, weil ihm keine Tore mehr gelingen wollen. Vielmehr sind es die Beschreibungen der Lebensumstände in den Slums von Sao Paulo, die das Zuhören und Mitdenken geradezu herausfordern.

In welch ärmlicher Behausung Carlos lebt und wie er dennoch voller Lebensfreude ist, dass er sich täglich als Fensterputzer den Autos an einer Kreuzung aufdrängen muss, anstatt zur Schule zu gehen, wie die Familie stets von Existenzsorgen geplagt wird und dennoch einen liebevollen Zusammenhalt pflegt, das alles ist weder anrührend, kitschig oder gar reißerisch geschrieben. Kein moralischer Zeigefinger, keine spürbare Parteinahme, nur spannungsvolle Beschreibung der Realität. Andreas Venzke schreibt lebensnah, seine kleinen Helden bieten Identifikationsmöglichkeiten, weil sie sich mit Alltagsproblemen und -herausforderungen auseinandersetzen müssen.

Ganz in der Tradition Peter Härtlings ist Venzke einer der wenigen aktuellen Autoren, die nicht auf phantastische Abenteuer setzen, sondern sich gekonnt mit der Lebenswelt der Kinder auseinandersetzen - und damit ist er auch erfolgreich.

Im Jugendhaus nutzen die Zuhörer die Pause, um einige Fragen zu stellen, doch dann drängen sie den Autor weiterzulesen. Und tatsächlich: Sofort herrscht wieder atemlose Stille. Noch eine knappe halbe Stunde dauert es, dann ist auch die letzte der 120 Seiten vorgelesen.

"Geschichten für Kinder sollten möglichst gut ausgehen", begründet Venzke das positive Ende, und die Kinder danken es ihm mit einem Riesenapplaus. Venzke gibt das Kompliment an seine überaus aufmerksamen Zuhörer zurück, doch er ist nicht der erste Autor, der sich vom Brettener Publikum begeistert zeigt. Ob es denn eine Fortsetzung von Carlos gibt, möchte ein Mädchen wissen, doch Venzke verneint. Er hat die letzten 18 Monate an einem Buch über den Traum vom Fliegen gearbeitet. Für die Kinder aber bleibt immer noch die Freude auf ein weiteres Lesevergnügen: "Der Grasesser" ist wesentlich umfangreicher und garantiert so einige fesselnde Stunden.

Der Kurier
23. Mai 2002