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Die Moderne

Aus: "Zeitschrift für Germanistik", Neue Folge, 3/95, S. 633-636

Montag 5. Mai 2014, von Andreas Venzke

Ein Artikel, der davon zeugt, dass ich zu jener Zeit vielleicht noch "wissenschaftliche" Ambitionen hatte ...

Andreas Venzke: Zum Entstehung des Begriffs "Die Moderne"

Viele Untersuchungen sind angestellt worden über das "moderne Drama". Für die einen bedeutete der Expressionismus "modernes" Drama, für die anderen das epische Theater, wieder für andere das absurde Theater und so fort. Jede neu entstandene Dramenform wurde mit dem Schlagwort "modern" versehen - und wenn dafür nicht die Dramatiker selbst sorgten, so die geisteswissenschaftliche Forschung im nachhinein [1]. Schon diese Tatsache macht deutlich, daß - nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung in der Literatur - eine andere Definition für "modern" als das Neue, das Zeitgemäße nicht gegeben werden kann: "Als ob das ’Moderne’ jemals ’in den Begriff erhoben’ werden könne!" [2] Gleichwohl wird bis heute jede kulturelle Regung mit dem Begriff "modern" versehen, und sei es in der modernsten Fassung der "Postmoderne".
Die Literaturwissenschaft bezieht den Begriff "modern" ausschließlich auf das 20. Jahrhundert, beginnend meist mit dem (Drama des) Expressionismus. (Dabei hatte das Fremdwort "modern" bereits im 18. Jahrhundert das Vokabular deutscher Intellektueller bereichert. [3]) Wie keine vorhergehende noch folgende Literaturform war allerdings der Naturalismus verbunden mit dem Begriff "Moderne". Und keine andere Dramenform erschien derart umwälzend, neuernd und anstiftend im Sinne von "modern" wie das naturalistische Theater. In den 1880er Jahren begannen in Deutschland etliche junge Schriftsteller das Wort zu ergreifen, die sich provokatorisch gegen die bestehende Literatur wandten und sich für eine der Zeit angemessene Literatur stark machten. Als Synonym für ihre Forderungen hatten sie die Parole "modern" auf ihre Fahnen geschrieben; doch wurden noch bis zum Jahr 1887 die Ansprüche der aufbegehrenden Schriftsteller nur mit dieser adjektivischen Bezeichnung "modern" belegt.
Der Begriff konnte je nach Verwendung Unterschiedliches bedeuten. Allgemein verstand man darunter etwas, was in dem Band des Deutschen Wörterbuchs von 1892 als "nach heutiger Weise", "den neuesten Sitten, dem neuesten Geschmacke, der neuesten Mode gemäß" bezeichnet wird, als etwas reichlich Diffuses, das jedenfalls, wie heute auch, "im Gegensatz zu" etwas stand, hauptsächlich im Gegensatz zu etwas zeitgeschichtlich Vergangenem und Überholtem. [4] Eingeschränkter bedeutete der Begriff "modern" das Bekenntnis zum gesellschaftlichen Fortschritt, zu einer Ideen- und Geisteswelt, die mit Namen wie Karl Marx, Charles Darwin oder Hippolyte Taine die Gespräche in den Salons und Wirtshäusern bestimmte. In diesem Sinne bezog man "modern" insbesondere auf die sich stürmisch entwickelnden Naturwissenschaften und auf die Technik. [5]
Und eben auf die Literatur bezog man den Begriff "modern", so auch auf die entstehende naturalistische Bewegung. Allerdings beschlagnahmten die Naturalisten den Begriff nicht nur für ihre Ziele, sondern sie modelten ihn auch um, in "die Moderne", die dann für einige Jahre nahezu gleichbedeutend für den Naturalismus stand.
Unter der Überschrift Zehn Thesen tauchte der Begriff "die Moderne" zum ersten Mal in der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung vom Januar 1887 auf, [6] eine Wortschöpfung, die Aufsehen erregte. Bis zu dieser Zeit war "modern" selten substantiviert worden und hatte immer "das Moderne" [7] gelautet. Eugen Wolff, der Verfasser jener Zehn Thesen, hatte bei der Änderung des Genus vom Neutrum zum Femininum wohl die Gegenüberstellung zu dem Begriff "die Antike" [8] im Sinn gehabt. (Obwohl Wolff den aufstrebenden Naturalisten mit dem Begriff "die Moderne" ein Identifikationssymbol schuf, schuf er mit seinen Zehn Thesen keine neuen Prinzipien für die "frühnaturalistische" Literatur. Was Wolff unter "der Moderne" verstand, war inhaltlich längst vor ihm formuliert worden. [9] Wolff kreierte ein Begriffsnovum, füllte aber in diese neue Form keine neuen Inhalte.) Jedoch erst vom Jahr 1890 an setzte sich das Schlagwort "die Moderne" durch, in seiner Popularisierung besonders gefördert von Hermann Bahr. Während etwa Heinrich Hart im Jahr 1889 und noch 1890 von "dem Modernen" [10] sprach, behandelte Bahr im Kunstwart der Jahreswende 1890/1891 "die Moderne".
Allein mit Blick auf das, worauf der Begriff "modern" inhaltlich bezogen wurde, läßt sich die Entwicklung der naturalistischen Literatur in Deutschland ablesen. Zu Beginn gefielen sich die jungen Schriftsteller einzig in der Rolle der Oppositionellen. Den zeitgenössischen Literaten warfen sie vor, diese hätten keine der Bedeutung der Zeit entsprechende Literatur hervorgebracht, sondern seien der Vergangenheit verhaftet geblieben und beriefen sich nur auf diese Vergangenheit, in erster Linie auf die Deutsche Klassik. Mit "modern" bezeichneten sie die Forderung nach einer "neue[n] nationale[n] Literatur!", kontrastierend die bestehende, gleichsam offizielle Literatur, gegen die sich all ihre Angriffe richteten. Die Brüder Hart formulierten im Jahr 1882: "Diese Verrohung des Stils, diese Sprache, welche bereits conventional erstarrt, dieses Ueberwuchern eines eklektischen Dilettantismus, diese Fluthwoge novellistischer Fabrikarbeit, dieses Haschen nach stofflichen Effekten, dieses um sich fressende Castratenthum der Kritik, diese maßlose Verflachung des Theaters und nicht zum mindesten dieser unglaubliche Geschmackswirrwarr im Publikum." [11]
Seit den ersten Aufsätzen der Brüder Hart kennzeichnete "modern" schlichtweg eine "Antihaltung", nämlich die Abgrenzung zur bestehenden Literatur. Noch vor der Ausformung des "Konsequenten Naturalismus" wurde dann "modern" in einem Atemzug mit der "realistischen" und "naturalistischen" Literaturentwicklung genannt. So formulierte etwa Michael Georg Conrad in dem Aufsatz Der moderne Roman: "Dieser Roman [’der einzig bedeutungsvolle, geistig dominierende’] [...], dessen Gestalt und Methode im Einklange mit dem wissenschaftlichen Charakter unserer Epoche steht und den konventionellen Hirngespinsten schlankweg den Rücken kehrt [...], ist der realistische oder naturalistische [der für Conrad Zolas Roman expérimental war - A. V.]." [12] Für ein paar Jahre schließlich meinte "Naturalismus" und "die Moderne" ein und dasselbe, nämlich in den Jahren von 1890 bis 1892, als das naturalistische Drama die deutsche Literatur dominierte, als auf der Bühne der "Konsequente Naturalismus" den Höhepunkt dieser Literatur markierte: "Die Moderne - so nennt sich doch wohl die neue naturalistische Richtung in der Literatur im Gegensatz zur Antike; die Jüngstdeutschen, die Gründeutschen, die Stürmer und Dränger fin de siècle und andere Bezeichnungen sind wohl minder willkommen, ein allgemein angenommener Name aber ist mir nicht bekannt." [13] (So wird verständlich, wie sinnlos es sein muß, "die Moderne" dieser Zeit an sich definieren zu wollen. Dies kann nur in aller Vagheit und literarhistorisch nur in Bezug auf die Literatur des Naturalismus geschehen.)
Gleichwohl war natürlich das traditionelle Verständnis des Begriffs "modern" als das Zeitliche, das Neuentstehende [14] weiter präsent. Dies zeigt sich besonders bei Bahr, der ja wesentlich den Begriff "die Moderne" im Sinne von "Naturalismus" durchzusetzen half, dann aber "die Moderne" auf diejenige Literatur ausweiten sollte, die den Naturalismus zu "überwinden" [15] habe. Nachdem der Naturalismus seine Dominanz eingebüßt hatte, wurde "die Moderne" entsprechend auf jede zeitliche, neu entstehende Form von Literatur bezogen. Die ursprüngliche Verkettung des Begriffs mit dem Naturalismus war aufgebrochen. Damit war dieses bis heute so moderne Schlagwort, das man um seiner Brisanz willen weiter benutzt hat, wahrhaft "frei" geworden, war "inhaltslos" geworden und wurde zu einer Floskel. [16]
Als Folgerung bleibt: Wer literarhistorisch nicht von "der Moderne" lassen will, der muß diese mit dem Naturalismus beginnen lassen. Ihre feminine Form wurde im Naturalismus geprägt, und durchgesetzt wurde sie mit Hilfe seines "modernen Dramas".


[1Der Expressionismus distanzierte sich sogar bewußt von "der Moderne", die man als vergangen von sich wies.

[2Friedrich Engels: Alexander Jung, Vorlesungen über die moderne Literatur der Deutschen. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1972, Bd. 1, S. 435

[3Vgl. Fritz Martini: "Modern, Die Moderne". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Berlin, New York 1958-1984, S. 391 - 415

[4Moriz Heyne (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1890-1895 S. 848

[5Bezeichnend lesen sich folgende Zeilen Ernst Haeckels: "Das Geistesleben der Kulturvölker im letzten Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Abschluß wir mit raschen Schritten entgegeneilen, bietet dem unbefangenen und weitsichtigen Beobachter ein Schauspiel ohnegleichen. Auf der einen Seite bewundern wir mit freudigem Stolze die erstaunlichen Fortschritte der Naturwissenschaft, welche diesem Jahrhundert den Stempel aufdrückt; wir durchfliegen in kürzester Zeit auf den Flügeln des Dampfes und der Elektrizität die weitesten Entfernungen; wir untersuchen die chemische Zusammensetzung der entferntesten Weltkörper durch die Spektralanalyse; wir entschleiern die Wunder der unsichtbaren Welt durch das Mikroskop; und mit den wunderbaren Entdeckungen der empirischen Wissenschaften und ihrer praktischen Verwertung in der Technik geht Hand in Hand die großartige Erweiterung unseres geistigen Gesichtskreises, welche wir dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft verdanken, der Zellentheorie, dem Darwinismus, der Entwicklungstheorie usw." (Die Weltanschauung der monistischen Wissenschaft, in: Freie Bühne. 3(1892)11, S. 1155)

[6Nach Fritz Martini (wie Anm. 3) veröffentlicht in der "Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung" vom 1.1.1887, 1. Jg., Nr. 1, S. 10

[7Vgl. Fritz Lienhard in dem Aufsatz "Reformation der Litteratur". In: Litterarisch-kritische Rundschau (Teil von: Die Gesellschaft), 1888, Nr. 3, S. 146: "Diese beiden Elemente, das Moderne im allgemeinen und im Modernen wieder das Germanische, werden und müssen zur vollen Geltung kommen, wenn die deutsche Literatur wieder zu frischem Leben erstarken will."

[8Die sechste der "Zehn Thesen" lautet: "Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne." Die "Zehn Thesen" sind abgedruckt in: E. Ruprecht: Literarische Manifeste des Naturalismus, 1880-1892, Stuttgart 1962, S. 141. Ruprecht weist übrigens das Jahr 1888 als Datum der Veröffentlichung aus.

[9Siehe als Vergleich zu den "Zehn Thesen" den Aufsatz der Brüder Hart (1882): "Wir wollen eine neue, nationale Literatur!" In: Kritische Waffengänge, 1882; gekürzt in: E. Ruprecht (wie Anm. 8), S. 35-39)

[10Heinrich Hart: "Die realistische Bewegung. Ihr Ursprung, ihr Wesen, ihr Ziel". In: Kritisches Jahrbuch. 1/1889, S. 51; ders.: "Der Kampf um die Form in der zeitgenössischen Dichtung", in: ebenda, 2/1890, S. 64

[11Heinrich u. Julius Hart: Kritische Waffengänge, Leipzig 1882, S. 5f.

[12In: Die Gesellschaft. 1(1885)40, S. 746

[13Moriz Carriere: Ein Bekenntnis der ’Moderne’. In: Die Gegenwart; Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Nr. 13(1891), S. 196

[14"Das Schlagwort, unter dem man die künstlerischen Bestrebungen der Gegenwart zusammenzufassen pflegt, heisst Naturalismus. Nun ist es allerdings das entscheidende Kennzeichen der Moderne, dass sie keine einseitige Einzelrichtung ist, [...]" (F. M. Fels: "Die Moderne". In: Moderne Rundschau, 3/1891, S. 81) Fels setzte sich in diesem Aufsatz dafür ein, den Begriff der "Moderne" nicht nur auf Hauptmann, Holz und Schlaf zu beziehen. Er verband daher - im Sinne Bahrs zu dieser Zeit - den Naturalismus auch mit Begriffen wie "Innenwelt", "Seelenleben", "Romantik".

[15In "Die Überwindung des Naturalismus" (1891) beschrieb Bahr die weitere Literaturentwicklung als drei "Phasen der Moderne": In zwei naturalistischen Phasen sei zuerst die Umwelt, dann der Mensch beschrieben worden. Die dritte Phase, der "neue Idealismus", der den Naturalismus überwunden habe, sei gekennzeichnet durch "das Wiederfinden der forschenden Freude an sich", durch das "Horchen nach dem eigenen Drang", durch das "Nervöse". In: Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus, hrsg. v. G. Wunberg, Stuttgart 1968, S. 85 - 89)

[16Vgl. die Feststellung eines Hans Landsberg aus dem Jahr 1904: "Es handelt sich darum, zu zeigen, dass wir auf historischem Wege, wenn wir also jetzt die Reaktion gegen den Naturalismus im modernen Symbolismus, in der Mystik und Neuromantik oder wie die Dinge sonst noch heißen mögen, ins Auge fassen, niemals zu einem sicheren Begriffe der Moderne gelangen." (Zit. n.: G. Wunberg: Die literarische Moderne. Frankfurt a.M. 1971, S. 156)