Wie Träume wahr werden
Autor Andreas Venzke liest bei "Sonntagsgeschichten für Kinder"
Wer hat Angst vor dem Internet? Andreas Venzke jedenfalls nicht: Er ist einer der wenigen Kinderbuchautoren, die eine Internetadresse und eine eigene Homepage haben. Echt fortschrittlich! Da kann man dann nachlesen, dass er 38 Jahre alt ist, für Zeitungen, Zeitschriften und fürs Radio schreibt und wie viele Bücher er veröffentlicht hat. Acht sind es inzwischen, vier für Kinder und vier für Erwachsene.
Zum Schreiben kam Andreas Venzke sozusagen über Nacht. Das kam so: Sein Studium der Germanistik und Publizistik musste er sich selbst verdienen. Und da die Universitäten nur tagsüber geöffnet sind, suchte er sich einen Job für die Nacht. Er fand eine Stelle als Nachtportier in einem Hotel, und wenn alle Gäste in ihren Zimmern verschwunden waren, hatte er Zeit und Ruhe genug, um zu lernen. Eines Tages kam ihm die Idee, diese Zeit anders zu nutzen, zum Beispiel zum Schreiben oder Übersetzen. Er bot einem Verlag die Übersetzung eines indischen Romans an nicht aus dem Indischen, denn das kann er nicht, sondern aus dem Englischen. Der Verlag akzeptierte sein Angebot und gab ihm, weil er seine Sache gut gemacht hatte, weitere Aufträge. So wurde Andreas Venzke über Nacht Übersetzer.
Vom Übersetzer zum Schriftsteller war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Andreas Venzke hatte nämlich das Bordbuch des Christoph Kolumbus aus dem Englischen übersetzt. Dafür hatte er viel über Kolumbus gelesen und wusste nun genau Bescheid über den großen Seefahrer und Entdecker. Was lag da näher, als seine Lebensgeschichte zu schreiben? Und weil es ihm so viel Spaß machte und er außerdem großen Erfolg hatte, schrieb Andreas Venzke danach die Lebensgeschichte des Johannes Gutenberg, der den Buchdruck erfunden hatte, und des Seehelden und Weltumseglers Francis Drake.
Das waren schon tolle Typen, mit denen Andreas Venzke sich jahrelang beschäftigt hatte. Abenteurer, Helden, Männer mit Mut. Und so bekam auch sein erstes Jugendbuch"Veit und ein anderer Tag" eine Hauptfigur, die sich als ausgesprochen mutig und entschlossen erweist. Allerdings wird Veit nach seiner tapferen Tat nicht als Held gefeiert, sondern im Gegenteil, er wird bestraft. Veit, der schüchterne Junge mit dem Klumpfuß, wird von seiner heimlichen Liebe Martina im Supermarkt in einen Diebstahl verwickelt. Statt Martina zu verraten, nimmt er die Schuld auf sich. Doch Martina läßt ihn im Stich, Veit bekommt fürchterlichen Ärger mit seinem alkoholsüchtigen und brutalen Vater. Er muss seinen Mut und seine Liebe mit Verlassenheit und Angst bezahlen, erst ganz zum Schluss kommt unverhoffte Hilfe. Eine Geschichte voller Spannung, beklemmenden, aber auch komischen Situationen. Sie zeigt, wie Veit seine eigenen Schwächen erkennt, aber auch seine Stärken entdeckt. "Man muss Stärke zeigen, auch wenn man sie nicht hat - aber man muss sie zeigen", sagt Veits Freund Tang.
Die Jugend - meint Andreas Venzke - sei die spannendste Zeit im Leben. Jeden Tag erlebt man etwas Neues, man ist noch offen für alle möglichen Eindrücke und macht überraschende Erfahrungen, peinliche und schöne. In dieser schwierigen Zeit, in der man mal"high" ist und mal "down", mal ganz gelassen und dann wieder auf 180, da kann man schon Bücher brauchen, die einem zeigen, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist auf der Welt. Einer, der es auch nicht leicht hat, der sogar kämpfen muss ums tägliche Essen, ist Carlos, der kleine Held aus "Carlos kann doch Tore schießen". Carlos lebt in Onigo, einem Armenviertel vor den Toren Sao Paulos in Brasilien. Keiner spielt so gerne und so gut Fußball wie er. Und Carlos träumt davon, einmal ein großer Fußballstar zu werden, wie sein Vorbild, der weltberühmte Pelé es war. Denn als berühmter Fußballer könnte er seine Familie besser ernähren als mit dem Putzen von Autoscheiben, wie er es im Moment tut. Doch dann gerät Carlos in eine Krise, seine berühmten Dribblings funktionieren nicht mehr und das gegnerische Tor kommt ihm zu klein vor. Er ist verzweifelt, denn seine Fußballzukunft steht auf dem Spiel. Wie diese Geschichte voller Hoffnungen und Enttäuschungen weitergeht, soll hier nicht erzählt werden. Aber dass. sie gut ausgeht, weil Carlos den Glauben an sein Ziel nicht verliert, das darf man schon verraten.
Andreas Venzke ist freier Schriftsteller, das heißt, er lebt vom Verkauf seiner Bücher und von Lesungen in Schulen und Buchhandlungen. Das ist nicht immer einfach, da muss man bescheiden sein und auf manches verzichten, was für andere selbstverständlich ist. Aber er tut das gerne, weil er dadurch unabhängig ist, niemandem Rechenschaft schuldet und schreiben kann, was, wie, wann und wo er will. Wenn er auf sein Honorar für die Lesung der "Sonntagsgeschichten" verzichtet, dann darum, weil er es wichtig findet, die gute Sache zu unterstützen.
Für Erstleser hat Andreas Venzke seine Geschichte "Tarzan auf dem Mammut" geschrieben. Der zehnjährige Tarzan träumt von einem Elefanten. Mit dem würde er so gerne seine heimliche Liebe Lisa von zu Hause abholen. Aber Elefanten gibt es leider nur in Zoos. Und die leihen Tarzan bestimmt keinen! Bis, ja bis... Was dann eines Tages Überraschendes, Aufregendes und Spannendes passiert, das muss man schon selber lesen! Das Leben ist nicht leicht, auch nicht für Kinder, meint Andreas Venzke. Es gibt Pleiten, Pech und Pannen. Aber wenn man das, was einem wichtig ist, selbst in die Hand nimmt und seine Ideen nicht verrät, dann kann man sein Ziel trotzdem erreichen. Seine Bücher erzählen von solchen Menschen, von Erwachsenen und Kindern, die den Mut haben, Herausforderungen anzunehmen und Widerstände zu überwinden. Und sie machen ihren Lesern Mut, es auch selbst zu versuchen.
Sylvia Schwab
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
7. November 1999