Startseite > Wilkes Tag > Text- und Hörproben > Kap. V-VII: "Live" [Ben spricht]

Kap. V-VII: "Live" [Ben spricht]

Montag 6. April 2020, von Andreas Venzke

Andreas Venzke: Wilkes Tag

 

Hier zum Anhören und als Download

Andreas Venzke/Wilkes Tag (2020)

 

V. Das Prinzip der Achtsamkeit

Ich habe bei den Treffen mit ihr gleich am Anfang immer die schwierigste Situation zu meistern. Es geht darum, ohne viel Aufhebens im Hotel ein Zimmer zu bekommen. Ich kläre das zwar immer vorher ab, aber trotzdem muss man ja so einen Meldeschein ausfüllen. Ich habe mir da in der Zwischenzeit gleich zwei Alias-Namen zugelegt und vertraue darauf, dass der Portier nicht meinen Perso sehen will. Den habe ich dann natürlich vergessen, was eigentlich immer geht. Wenn ich einen älteren Herrn als Portier vor mir habe, atme ich sowieso schon durch. Die Älteren haben nun mal Lebenserfahrung und wissen, was es bedeutet, wenn jemand ein Zimmer ohne Frühstück haben möchte, die Frau sich eigenartig versteckt im Hintergrund aufhält und bar bezahlt wird.
Aber so ein Student wollte wirklich mal ausdrücklich meinen Personalausweis sehen. Er beharrte auf dem Gesetz und hatte so einen unglaublich ruhigen Ton, überheblich, eigentlich spöttisch. Als ob er nicht auch gewusst hätte ... Da bin ich dann gegangen, zwar unter Protest, aber doch die Form wahrend, weil man in einem Versteck ja kein Gezeter anfangen sollte.
Wir sind zu einem anderen Hotel gefahren, was teurer war und auch eine Stunde Zeitverlust kostete, geschuldet diesem Studenten in seinem Ordnungswahn. Wie wachsen die Kinder heute nur auf, derart angepasst? Meine sollen jedenfalls nicht so werden.
Schon im Fahrstuhl kann ich mich kaum beherrschen und führe ihre Hand zwischen meine Beine, damit sie meine Erregung spürt. Sie hält mich mal wieder lachend auf Abstand, als müsste ich um ihre Zuneigung ringen. Das erregt mich natürlich um so mehr. Auf dem Zimmer gibt sie sich eigentlich immer schnell hin, nur küssen – das mag sie irgendwie nicht. Am Anfang störte mich das. Ich vermisse es aber nicht mehr, wenn ich stattdessen ihren Körper so ganz haben kann – nur für mich, wie sie immer betont.
Wie um die Spannung noch zu steigern, zieht sie sich im Hotelzimmer zunächst um, steigt in ihr herrliches Negligé. Meinetwegen müsste das gar nicht sein, aber ich erkenne doch, dass es sozusagen zum Spiel gehört. Ein Geschenk übergibt man ja auch hübsch verpackt.
Was zu diesem Spiel ihrerseits auch gehört, ist ihre Klage, dass sie einfach nicht mit dem Geld auskomme. Sie zeigt mir manchmal sogar eine Rechnung, was etwa allein ihre neue Waschmaschine gekostet habe. In dem Fall habe ich mir zwar gedacht, es müsste ja nicht unbedingt eine Miele sein, zumal wenn sie bestimmt nicht mehr als alle zwei oder drei Tage mal wäscht – aber ich behalte das für mich und gebe ihr einen Teil dazu.
Nun darf ich sie schon im Arm halten und ihr Negligé öffnen. Wie ich es genießen kann, wenn sie mit ihren warmen, weichen Händen über meinen Körper fährt, so ähnlich wie man ein Pferd lange und gründlich striegelt. Ich muss immer an dieses Bild denken, weil sie ja selbst reitet und auch dafür recht viel Geld braucht. Aber ich verstehe, was ihr dieses Hobby gibt, wenn sie merkt: Sie kann das Pferd wirklich beherrschen und ihrem Willen unterordnen. Das ist ähnlich wie meine Arbeit als Chorleiter. Das Gefühl kann sogar berauschend sein, wenn ich merke, ich werde eins mit dem Chor. Außerdem gibt sie zu, wie sie das Reiten erregt. Sie beschreibt sogar, wie sie sich vorstellt, sie würde nackt dahintraben, ohne Sattel.
Sie selbst streift mir das Kondom über. Unglaublich, wie fingerfertig sie dabei ist. Sie kann das so schnell, dass dabei sozusagen alles im Fluss bleibt. Ich selbst versuche mich zu zügeln, um den Genuss hinauszuzögern, den sie mir bereitet. Doch als sie selbst mich schon in sich aufnehmen will, klingelt plötzlich mein Handy wieder.
Ich erschrecke, weil es sich dabei wieder nur um ein privates Gespräch handeln kann. Wegen der Arbeit bin ich auf meinem Handy nicht zu erreichen.
Sie sieht mich fragend an. Es klingelt weiter. Da steigt sie von mir ab und reicht mir mein Handy, mit der Anzeige zu mir. Corinna ruft wieder an.
Ich kann nicht anders: Ich muss antworten. Sonst wäre es zu auffällig. Ich halte zu ihr gewandt einen Finger auf den Mund, nehme das Gespräch an und sage: „Hallo Conni, was gibt’s? Ich bin hier gerade im Laden.“
Sie steht auf und geht ins Badezimmer. Wie rücksichtsvoll sie sein kann, denke ich kurz und versuche, Corinna genau zuzuhören. Jetzt kommt es drauf an.
Zum Glück kann mich so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Da bin ich schon mal ganz anders als mein Vater. Wie der bei jeder Gelegenheit an die Decke gehen kann! In gewisser Weise beruhigt es mich zu merken, wie ich da anders gestimmt bin. Ich bin eher wie der Bass, der schon durch seine Stimmlage gar nicht anders kann, als ruhig zu schwingen. Wieviele Töne dagegen ein Tenor erreichen muss! Da können einige noch in den dreigestrichenen Oktaven herumjodeln! Aber diesen Ausdruck nehme ich gleich zurück. Es macht ja die Kunst des guten Sängers aus, auch noch in den hohen Lagen ohne Gewalt sauber zu intonieren, halt wie das Wasser, das man ausschüttet.
Ich versuche, mich an das Prinzip der Achtsamkeit zu halten und nicht einfach dahinzuplappern. Es kommt darauf an, den Anderen erst einmal ausreden zu lassen und genau zuzuhören, was er sagt, also was sie jetzt sagt. Doch ich merke, dass Corinna eins bestimmt nicht ist: Ruhig! Sie hämmert mit einem Stakkato von Ausdrücken auf mich ein, angefangen bei Egoist und noch lange nicht endend bei Arschloch – als ich sie doch unterbreche und sage: „Ich bin ja bald zu Hause, Schatz, in höchstens einer Stunde, oder sogar einer dreiviertel Stunde!“
Dann höre ich allerdings wirklich nicht mehr ganz genau zu, was sie mir noch sagt und immer wiederholt.
Dass sie so übertrieben ist, denke ich, dass Frauen manchmal so übertrieben sein müssen! Ich verspreche ihr, dass ich dann direkt nach Hause fahre.
Was sie nur hat, überlege ich. Denkt sie sich irgendwas Bestimmtes, nur weil ich einmal nicht im Büro war?
Auf jeden Fall hat sie wieder aufgelegt, und das beruhigt mich in gewisser Weise: So wird sie mich nicht gleich wieder anrufen. Ich denke, dass ich eigentlich wieder cool geblieben bin, was durchaus mit Lebenserfahrung zu tun hat. Ich strecke mich auf dem Bett aus.

 

VI. Auf das Wesentliche beschränken

Ich bin gleich wieder voller Begierde. Fast kommt es mir so vor, als wäre der Anruf von Corinna nur ein sozusagen retardierender Moment gewesen.
Ich schaue kurz auf die Flasche Champagner auf dem Nachttisch und überlege, ob wir den wohl noch aufmachen werden. Nach dem ersten Mal gehört das eigentlich immer dazu. Aber ich weiß nicht, ob dafür diesmal genug Zeit bleibt.
Sie kommt auch schon aus dem Badezimmer zurück, verführerisch umhüllt von ihrem Negligé, das blütenweiß ist, oder weiß wie Schnee, jedenfalls unberührt weiß. Die Frauen wissen einfach, wie sie den Mann noch zusätzlich betören können. Mache ich etwas Schmutziges? Nein, natürlich nicht! Es geht doch um das Normalste der Welt. Trotzdem kann auch ich mich nicht dagegen wehren, dass es dieses Bild in der Vorstellung gibt: Auf der einen Seite etwas Reines, Weißes, Sauberes – auf der anderen Seite ... aber ich will das jetzt gedanklich nicht weiter ausführen. Man muss sich doch auf das Wesentliche beschränken. Auch beim Konzert merke ich, wie schädlich es sein kann, nur den Anflug eines anderen Gedankens zuzulassen, der nicht auf das Werk bezogen wäre. Das spüren sie alle.
Einmal habe ich kurz daran gedacht, dass sich der Falkensteiner vom Tenor die Haare gegelt hat, als könnte er damit seine beginnende Glatze kaschieren. Ergebnis war, dass der Sopran mal wieder auf der Eins einstieg, und nicht auf der Eins und, wie wir das doch immer wieder geübt hatten. Wahrscheinlich kam mein Einsatz wegen Falkensteiners gegelter Haare einen Tick zu spät.
Ich breite die Arme aus, um sie zu mir einzuladen. Ich zeige ihr meine Erregung und stelle mir vor, wie sie nun einfach auf mich steigt, um ... Aber sie setzt sich nur wie spielerisch auf die Bettkante und dreht den Kopf zu mir. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen.
Was ist nur mit ihr? Sie ist doch sonst immer gleich heiß auf mich, überlege ich. Es ist, als würde sie sich von mir abwenden.
„Was ist?“, frage ich vorsichtig.
Sie zieht nur die Schultern hoch und bleibt sitzen.
„Komm doch zu mir!“, sage ich und versuche, Kraft in meine Stimme zu legen und sie von tief unten klingen zu lassen.
Doch sie schüttelt nur leicht den Kopf und schaut nach vorn.
Irgendwie werde ich nun ärgerlich. Ich habe mir extra dieses Kondom überziehen lassen, weil sie das ja immer will. Zwar nimmt sie die Pille, sagt aber trotzdem: Sicher ist sicher. Ich habe das immer für reichlich übertrieben gehalten, wie Frauen so sein können. Aber deswegen will ich als Mann mich nicht beschweren. Wenn etwas schief geht, sind es die Frauen, die das Problem an der Backe haben.
Zum ersten Mal dämmert in mir der Gedanke, dass sie vielleicht eine andere Sicherheit meinen könnte. Aber könnte sie annehmen, dass ich noch was mit anderen Frauen hätte, von Conni mal abgesehen? Mich bringt das jetzt erst recht durcheinander, und zwar so sehr, dass ich dieses blöde Kondom abstreife, obwohl das ja zwei Euro pro Stück kostet. Denn ich kaufe die, und ich achte auf Qualität. Ich nehme die feinsten, die das meiste Gefühl versprechen. Da sollte man am falschen Ende nicht sparen.
Als ob beim Konzert der Notenständer plötzlich umkippen würde, so empfinde ich gerade den Anruf meiner Frau – und ihr Verhalten. Sie zieht ihr Negligé zu, und ich kann ihre schöne Brust nicht mehr sehen. Mehr muss ich dazu gar nicht sagen.
„Was wollte deine Frau denn?“, fragt sie mich.
„Na, was schon!“, gebe ich zurück. „Gucken, wo ich bin! Mich kontrollieren. Weil ich einmal nicht in meinem Büro zu erreichen war.“
„Ich meine“, sagt sie, dreht den Kopf wieder zu mir und sieht mich richtig streng an, während sie an ihrem Negligé obenherum einen Knopf zumacht, „was wollte sie denn genau?“
Ich schaue sie verständnislos an und merke, wie mein Puls ansteigt. Ich glaube zwar nicht an Übersinnliches, aber an Gefühle durchaus, und auch an so etwas wie eine Eingebung, oder ein Gespür für Gefahren ... so wie neulich der Falkensteiner, mein wichtigster Tenor, plötzlich zu mir sagte, er könne so nicht weiterarbeiten. Ich könne ihn bei seinem Solo nicht immer wieder unterbrechen, nur weil mir ein bestimmter Ton nicht passe.
Wenn er wüsste, wie ich wirklich über ihn denke: Eingebildeter Lackaffe! Wie er sich in Positur wirft wie ein Pfau, damit alle Hennen zu ihm hinziehen! Manchmal liegt bei ihm nicht nur ein Ton verkehrt, sondern eine ganze Reihe von Tönen, weil er in die Melodielinie fällt.
Jedenfalls war ich da plötzlich sehr wach und sehr konzentriert und habe dann vor allen das Gespräch mit dem Falkensteiner gesucht. Dabei war ich explizit höflich, verständnisvoll, sogar demütig, damit alle sehen und wahrlich erfahren konnten, wie ich eigentlich bin. Dieser Tenor darf mir nicht verloren gehen.
Ich überlege weiter und sage nichts. Unter der Bettdecke rolle ich mit den Fingern das Kondom zusammen.
„Was hat sie denn genau gesagt?“, fragt sie weiter und macht umständlich noch einen Knopf zu.
„Dass ich nach Hause komme und dass ich ja daran denke“, antworte ich sofort und schaue verstört auf ihr Negligé.
„Dass du woran denkst?“, fragt sie und dreht sich plötzlich ganz zu mir.
„Na, dass ich nach Hause komme“, antworte ich gereizt. „Mache ich ja auch.“
„Nein, du Trottel“, ruft sie da und springt plötzlich auf. „Überleg doch mal! Woran sollst du denken? Du hast irgendwas vergessen. Sonst würde sie doch nicht schon wieder anrufen.“
Du Trottel, wiederhole ich innerlich und schmeiße das Kondom zur Wand. Doch öffnet es sich im Flug und bleibt an der Bettkante hängen, wie zur weiteren Untersuchung bestimmt.
Als sie kurz auflacht, fällt es mir ein: Die Untersuchung! Ultraschall! Heute! Um zwölf der Termin!
„Ich Trottel!“, schreie ich und springe aus dem Bett.
Ohne dass ich noch weiter etwas sage, wirft sie mir meine Klamotten zu.
„Ich habe einen Termin“, rufe ich mit ganz hoher Stimme. „Wir haben einen Termin.“
„Ich verstehe“, sagt sie nur und zieht sich ebenfalls an. Das Negligé wirft sie auf einen Stuhl wie ein Bauarbeiter, der seine verdreckte Arbeitskluft auszieht.
Der Champagner bleibt ungeöffnet stehen. Schade drum!

 

VII. Ziemlich schnell unterwegs

Ich muss mich jetzt sputen, um rechtzeitig bei Conni zu sein. Wie konnte ich Trottel nur den Termin mit dem Ultraschall vergessen? Wer weiß, was dabei herauskommt! Wenn ich daran denke, war es beim letzten Mal eigentlich richtig geil mit Conni. Sie war so voller Hingabe. Ich weiß noch, ich musste dabei an eine Löwin denken, wenn die sich besteigen lässt, und die dafür ihren ganzen Körper geschmeidig macht, damit der Löwe sie gut nehmen kann – und wie sich die Löwin anschließend streckt und herumwälzt, als müsste sie das aufgenommene Sperma noch in sich verteilen! Es würde mich also nicht wundern, wenn es heute eine besondere Nachricht gäbe, wenn wir zum Krankenhaus fahren. Ich werde rechtzeitig zu Hause sein.
Auf dem Rad brauche ich noch fünfzehn Minuten bis zu unserer Wohnung. Es gibt diesen Mammutbaum rechts am Weg, von dem ab ich schon oft genug die Zeit gestoppt habe. Nicht dass ich das bewusst machen würde! Es ist nur so eine Art Zeitvertreib, dass man sich die Strecke einteilt, wie man sich ja auch durch eine Partitur arbeitet. Man kennt da jede einzelne Pause, jedes Wiederholungszeichen, natürlich jeden Tonart- oder Rhythmuswechsel. Man braucht die Abwechslung, wenn man immer wieder auf das Nämliche stößt. Das ist mit meiner Frau auch nicht anders. Ich liebe sie, aber viel Abwechslung kann es nach so vielen Jahren Beziehung nicht mehr geben.
Ich trete gerade mal wieder in die Pedale, weil ich es von diesem wilhelminischen Haus, das noch gemalte Fensterscheiben hat, schon unter zwölf Minuten geschafft habe. Da stößt plötzlich eine Autofahrerin die Wagentür auf. Ich reiße den Lenker herum und schaffe es wirklich um Haaresbreite, nicht in die Tür zu fahren, doch kann ich das Gleichgewicht nicht mehr halten und schlage auf dem rechten Bein auf. Ich höre, wie es irgendwie knackt.
Die Frau kommt zu mir, fast gemächlich, und sagt nur leise: „Was ist Ihnen denn passiert?“
„Was mir passiert ist, du dumme Sau!“, schreie ich und erkenne mich gar nicht wieder. Sonst lege ich eigentlich sehr viel Wert auf die Höflichkeitsform. „Du hast die Tür aufgemacht, ohne nach hinten zu gucken!“
„Oh, das tut mir leid“, sagt sie und hält sich die Hand vor den Mund. „Sie waren aber auch ziemlich schnell unterwegs.“
„Was hat das damit zu tun, olle Zippe!“, schreie ich und verstehe gar nicht, welche Worte mir plötzlich in den Mund kommen. Sonst bin ich immer beherrscht, sogar meinem Vater gegenüber.
„Nun ja“, sagt sie und nimmt eigenartig lässig den Kopf zurück, „am besten rufen wir die Polizei und lassen das den Anwalt regeln.“
„Den Anwalt regeln!“, schreie ich wieder. „Fällt dir dazu mehr nicht ein, wenn du mir hier gerade das Bein zertrümmert hast?“
Sie antwortet nun gar nicht mehr, schüttelt nur leicht den Kopf und nimmt ruhig ihr Handy.
Ich kann mich kaum beherrschen und will aufspringen und ihr das aus der Hand schlagen. Hat sie gar kein Mitgefühl?
Aber ich knicke regelrecht ein, als würde beim Übergang zum Falsett die Stimme versagen.
Durchatmend sage ich mir: Ruhig! Ganz ruhig bleiben! Achtsamkeit!
Ich setze mich auf den Hosenboden, reibe mir das Knie und greife wie instinktiv nach meinem Handy. Es ist einmal in der Mitte durchgebrochen, als hätte es jemand über der Tischkante abgenickt. Ich starre darauf wie auf ein unlesbares Notenblatt, und ich denke daran, wo ich mich überhaupt befinde: An einer Stelle, die ganz woanders liegt als auf dem Weg zu meinem Büro oder zu dem Musikhaus.
Ich schaue hoch zu der Frau. Sie spricht an ihrem Handy, als würde sie sich nur ruhig mit ihrer besten Freundin austauschen. Sie geht zu ihrem Auto und schaut sich die offene Fahrertür an, wohl auf Anweisung desjenigen, mit dem sie spricht. Einmal schaut sie auch zu mir herunter. Dabei zieht sie nur die Augenbrauen hoch, fast so wie ein Musiklehrer, der schon bei den ersten Tönen merkt, dass der, der vorsingt, nichts von Musik versteht. Sie wirft mit einer kaum merklichen Bewegung des Ellenbogens die Autotür zu.
Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass diese Frau eigentlich sehr verführerisch aussieht. Sie trägt eine offene Bluse und eindeutig keinen BH.
Ich komme mir auf einmal schmutzig vor.

© Andreas Venzke